Michael von Prollius, Publizist und Gründer von Forum Freie Gesellschaft
Europa kann in turbulenten Zeiten ein Leuchtturm sein. Dazu gilt es, das Leuchtfeuer der Freiheit zu entzünden. Leuchttürme weisen den Weg, sie signalisieren wo Wasser und Land aneinander grenzen, wo Gefahren lauern und wo ein sicherer Hafen zu finden ist. Der Nobelpreisträger Ronald Coase hat aufgezeigt, dass Leuchttürme als öffentliches Gut im 19. Jahrhundert vor allem privat errichtet wurden. Bereits vor Christi Geburt gab es Leuchtfeuer, die den Handel verbesserten.
Sichere Grenzen, unbeschränkte Handelsmöglichkeiten auch über Grenzen hinaus, einfache Gesetze und niedrige Steuern, minimale Bürokratie und maximale Selbstbestimmung, Meinungsvielfalt selbstbewusster Bürger mit pluralistischen Lebensweisen – all das könnten Merkmale sein, die Europa zu einem glänzenden, nachahmenswerten Kontinent machen würden. Das ist leider nicht der Fall, zumindest nicht annähernd in dem von Liberalen gewünschten Ausmaß. Zentralisierung, krisenschürende Politik, betreute Verbraucher statt mündige Bürger und gravierende Sicherheitsprobleme stehen dem entgegen. Die Liste der EU-Missstände ist noch viel länger.
Die Gründerväter träumten von einem Europa in Freiheit, Frieden und Wohlstand. Das ist weitgehend Wirklichkeit geworden. Die europäische Integration im Sinne der vier Grundfreiheiten hat daran einen maßgeblichen Anteil. Die Weichenstellungen seit der Finanzkrise bedrohen jedoch eher Freiheit, Frieden und Wohlstand als sie zu fördern. Gleiches gilt für den etatistischen Strang der EU und ihrer Vorläufer seit der Montanunion 1951. Die EU ist institutionell das Problem, nicht die Lösung. Die EU könnte zum Leuchtturm werden: als Konföderation selbständiger Nationalstaaten, die sich vertraglich einer Dachorganisation anschließen.
EU-Bürokratie als dunkle Bedrohung
Die Ursache der Europa-Misere ist eine „EUrokratisierung“ Europas. Zentralisierung und damit unauflösbar verknüpft Dirigismus und Etatismus, eine Kommissionswirtschaft und eine bürokratisch gelenkte Gesellschaft, das sind zugleich Merkmale und illiberale Probleme der EU. Die Einmischung in nahezu alle Lebensbereiche von über 500 Millionen Menschen kann nicht gut sein und kann nicht gut gehen. Die Lappen am Polarkreis führen ein anderes Leben als die Kreter oder Malteser. Würde das Recht der Freiheit gelten, wäre es im besten hayekschen Sinne eine Rahmen- und Vielzweckordnung, die das Handeln der Menschen niemals konkreten Zwecken unterwirft, dann würden alle Europäer davon profitieren. So aber legen Bürokraten Privilegien fest, entscheiden Funktionäre über Gewinner und Verlierer, lenken Apparatschiks nach ihren Vorstellungen und denen der Lobbyisten schleichend das Leben des Vielvölkerkontinents – vom Apfeldurchmesser und Gurkenkrümmungsgrad über Kondomfüllungsvermögen und Feinstaubrichtlinie bis zum Seilbahngesetz für das Flachland. Im Ernst, die vergangene Agrarpolitik und die künftige Arbeitsmarktregulierung sind nur zwei Beispiele für marktwirtschaftsfeindliche Anmaßungen Brüsseler Funktionäre, die mit nationalen Politikern und Interessengruppen Kuhhandel treiben.
EU: Griff nach der Macht
Statt die Subsidiarität zu stärken, sollen die EU-Institutionen noch mächtiger werden. Die aktuellen Pläne von Kommissionspräsident Juncker zur Reform der EU sind der Inbegriff von Zentralisierung und einer bürokratischen, bürgerfernen und mächtigen EU. Juncker plädiert für eine Ausweitung des krisenhaften Eurosystems auf alle 28 EU-Staaten, will einen EU-Kommissar zu einem Wirtschafts- und Finanzminister aufwerten und strebt eine EU-Arbeitsmarktaufsicht an, d.h. Mindestlöhne und Mindestsozialleistungen für alle. Nachdem der Euro die politische Einheit bewirken sollte und mit der schwersten Krise Europas seit dem Zweiten Weltkrieg das Gegenteil erreicht hat, ist der nächste Versuch eine dekretierte Sozialunion.
Hayek hat diesen Mechanismus der Zentralisierung und Machtausweitung vor 50 Jahren beschrieben: „[…] die Zentralisierung schreitet fort, nicht weil die Mehrheit der Menschen in der großen Region begierig wäre, den ärmeren Regionen Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, sondern weil die Mehrheit, um eine Mehrheit zu sein, die zusätzlichen Stimmen aus den Regionen benötigt, die einen Vorteil daraus ziehen, wenn sie am Reichtum der größeren Einheit teilhaben.“
Die EU ist nicht zuletzt ein politisches Kartell. Stimmenkauf, das Schmieren und Belohnen unlauterer Sonderinteressen, mit diesen Worten wies Hayek auf das Problem der Demokratie hin. Bastiat nannte das die große Illusion, nach der jedermann glaubt, auf Kosten von jedermann leben zu können. Das erste Opfer ist stets das Eigentum.
Zentralismus ist das Problem, nicht die Lösung
Es liegt nahe, historische Probleme sozialistischer Staaten in Erinnerung zu rufen, weil viele Probleme sich ähneln. Mit der Zentralisierung von Entscheidungen werden auch Fehler zentralisiert – und sie werden maximiert, weil über 500 Millionen Menschen von der Fehlentscheidung betroffen sind. Zugleich fällt der Lernmechanismus aus: der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren; er wirkt zugleich entmachtend. Juncker will als nicht gewählter „Superpräsident“ die Zuständigkeit des EU-Ratspräsidenten usurpieren und dessen Amt abschaffen.
Der Trend zu autoritären Systemen ist derzeit unübersehbar: Erdogan mit der Türkei auf islamistischem Kurs und mit neoosmanischen Visionen, schon länger in Russland mit dem System Putin und die kommunistische Regierung in China mit einem unverhohlenen Streben nach der Weltherrschaft, um nur drei Beispiele zu nennen. Eine herrschende Zentrale kann keinen Widerspruch dulden, wenn sie erst einmal über ein bestimmtes Maß an Macht verfügt.
Die Zentralismus-Gläubigkeit befällt aber auch demokratische Gesellschaften. Wilhelm Röpkes Mahnung, die er in seinem vielleicht bekanntesten Buch „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ 1958 formulierte, ist sehr aktuell: „Es bleibt der Hang, vor jedem auftauchenden Problem in die behördliche Regelung zu flüchten – in Europa in der besonders absurden Form, für ein auf nationaler Stufe sich als unlösbar erweisendes Problem die Lösung auf internationaler Stufe von supranationalen Behörden zu erwarten – und hinter der Fassade der Marktwirtschaft die Entwicklung zur bürokratischen Erstarrung und zur Allmacht des Staates bewusst oder unbewusst weiter voranzutreiben.“
EU-Gegnerschaft wächst, Etatismus auch
Wen wundert es, dass die Gegnerschaft zu Brüssel wächst? Der Brexit ist ein Fanal und macht aus der EU ein widerrufbares Projekt. Die Reaktion, nämlich Härte gegen Aussteiger zeigen, auf Abschreckung setzen, statt ein umfassendes Programm zur Attraktivitätssteigerung zu entwickeln, spricht für sich und gegen Brüssel. Europäischer Chauvinismus ist nicht besser als nationaler.
Kerneuropa besteht (erneut) aus dem Führungsduett Frankreich-Deutschland. Angesichts der nie aufgegebenen Planificationsideologie Frankreichs, einer staatswirtschaftlichen Lenkung, sind das keine guten Aussichten. Frankreichs Präsident Macron hat gerade den Schiffsbauer STX France ohne Not verstaatlicht, aus politischen Gründen gegen eine Übernahme durch einen italienischen Investor. Mit dem Brexit fehlt eine Stimme im ohnehin nicht mehr starken Lager der Befürworter von Marktwirtschaft, Freihandel und Vielfalt. Uniforme Sozial- und Fiskalpolitik in ganz Europa lautet die EU-Parole.
Macrons Vorschläge ähneln unangenehm Junckers Programmatik. Eine EU-Wirtschaftsregierung ist das Ziel mit eigenem Budget, deshalb: Einrichtung eines Krisenfonds, gemeinsames Schatzamt für Vermögen und Schulden, Einlagensicherungsfonds, Arbeitslosenversicherung. Erfolgt ist bereits der Einstieg in die Haftungsunion durch den ESM und den Bankenabwicklungsfonds. Wir laufen auf ein Eintopf-Europa zu: Alles in einen Topf, das meiste allerdings aus Deutschland, alles aus einem Topf.
Die beiden großen Krisen unserer Zeit – die Finanzkrise und die Migrationskrise – tragen zu erheblichen Spannungen in Europa bei, zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost. Zudem fehlen die richtigen Weichenstellungen für die Zukunft. Bisher gibt es keine nachhaltigen Lösungen für Staatsschulden, Pensionsversprechen, strukturelle Ungleichgewichte bei der Wettbewerbsfähigkeit, Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit. Eine Neuorientierung tut Not. In der Sackgasse hilft nur umdrehen.
Für ein Europa der Freiheit: Transformation der EU in eine Konföderation
Besinnen wir uns auf Freiheit und Vielfalt als historische Stärken. Das vereinte Europa ist von seinen Gründungsvätern Konrad Adenauer, Robert Schumann, Jean Monnet, Altiereo Spinelli, Alcide De Gasperi und anderen als Hort der Freiheit gegen alle Formen von Diktatur, Unfreiheit und Planwirtschaft erträumt worden. Adenauer sprach im Juni 1961 davon, dass wir ein „Haus der Freiheit“ bauen müssen, damit „die Gegensätze der Nationalstaaten in Europa im Laufe der Zeit“ verschwinden. „Unser Ziel ist, dass Europa einmal ein großes, gemeinsames Haus für alle Europäer wird, ein Haus der Freiheit“. Ludwig Erhard brachte die politische Integration Europas auf die Formel: „Verwirklichung der Freiheit in allen Lebensbereichen.“
Die EU kann nur dann als legitim anerkannt werden, wenn ihre Apologeten nicht länger einen Absolutheitsanspruch erheben und sich stattdessen mit einem instrumentellen Status zufriedengeben. Ein europäischer Staatenbund freier Bürger und freier Nationalstaaten ist ein realistischeres Ziel, als es die zwanghaften Versuche einer zentralistischen Integration von oben sind. Als Konföderation mit einer Zentrale, die nur wenige, repräsentative und überwachende Funktionen ausübt, erfüllt die EU einen sinnvollen Zweck.
In einer Konföderation bleiben die Staaten souverän. Nur wenige verallgemeinerbare Aufgaben werden tatsächlich im Bürgerinteresse an die Zentrale abgegeben, etwa die Repräsentation Europas und die internationale Interessenvertretung. Schon die Außen- und Sicherheitspolitik wird sich kaum zentralisieren lassen, weil Frankreich und Großbritannien stets eigene Wege beschreiten. Richtig wäre es, die gemeinsame Sicherheit zu stärken, auch mit einer weiteren Integration der Streitkräfte. Zugleich ist der militärische Interventionismus völlig verfehlt und regelmäßig kontraproduktiv. Die Niederlage Deutschlands bei der Verteidigung am Hindukusch ist ein Fingerzeig. Eine gemeinsame äußere Grenzsicherung sollte durch eine enge Kooperation in der inneren Sicherheit ergänzt werden. Die Zentrale der Konföderation kann hier eine Schrittmacherfunktion ausüben.
Nach innen ist die konsequente Durchsetzung der vier Grundfreiheiten das herausragende Anliegen, mit dem die europäische Konföderation beauftragt werden kann. Das Eintreten für Freihandel nach innen und außen ist eine kaum zu überschätzende Aufgabe. Auch für die Herrschaft des Rechts einzutreten, das in der Finanzkrise schwer unter die Räder geraten ist, wäre eine Aufgabe für den „Europäischen Bund Freier Staaten“. Wettbewerb hegen und Subsidiarität pflegen muss oberstes Gebot sein. Ein Sezessionsrecht gehört genauso zu einer Föderation wie verschiedene Integrationsformen der Einzelstaaten.
Eine europäische Föderation würde Hayeks Vorstellung von einer internationalen Organisation nahekommen, die Macht beschränkt, aber selbst nur jenes Minimum an Befugnissen haben soll, „ohne die keine friedlichen Beziehungen aufrechterhalten werden können, d.h. im Wesentlichen in den Befugnissen des […] ‚Laissezfaire-Staates’.“
Die Integration ergibt sich von selber, mit der Zeit. Integration gelingt von unten nach oben, Gemeindefreiheit nannte das der Schweizer Universalhistoriker Adolf Gasser. Subsidiarität bedeutet: von den Wurzeln her. Prinzipiell zuständig ist die unterste Stufe. Jede politische Einheit ist kein Selbstzweck, sondern dient der Unterstützung der einzelnen, verbundenen Menschen in ihrem Bemühen um eine Verbesserung des Lebens. Grenzübergreifend schreitet beispielsweise in der Region Oberrhein mit dem Südelsass, Südbaden und dem Großraum Basel die Integration voran.
Was auf individueller Ebene gilt, trifft auch auf die europäische Ebene zu: Freiheit, Selbstbestimmung und individuelle Entwicklung, eingebunden in eine Gemeinschaft, sind die Voraussetzungen für individuelles Glück, für persönlichen Frieden und Wohlstand. Das gelingt dann, wenn ich aus eigenem Antrieb und Willen meinen Zielen folge und mich so weit wie möglich von den Wünschen, Anforderungen und Wertsetzungen anderer Menschen unabhängig mache. Das ist das Leuchtfeuer der Freiheit.