Olivier Kessler, Vizedirektor Liberales Institut
Europa gilt historisch gesehen nicht zu Unrecht als Wiege des Liberalismus. Nirgendwo wurde der Liberalismus so weitgehend erforscht wie auf diesem Kontinent. Auch in der Umsetzung ging Europa relativ weit. Es setzte sich die Überzeugung durch, dass Menschen gleichermassen über individuelle Abwehrrechte verfügen sollen – unabhängig ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie, ihres Standes, ihres Geschlechts und weiterer Unterscheidungsmerkmale. Quelle dieser Überzeugung ist die Einsicht, dass Menschen im Unterschied zu Pflanzen und Tieren vernunftbegabte Wesen mit einem freien Willen sind. Entsprechend gilt es, sie in ihrer Würde zu schützen.
Die Wurzeln dieser Überzeugungen liegen unter anderem im antiken Griechenland, dem Europa die Herrschaft des öffentlich erarbeiteten Rechts zu verdanken hat, welches die Willkür einzelner Herrscher ablöste. Formalisiert wurden diese Grundsätze – insbesondere das Recht auf geschütztes Privateigentum – später durch römische Juristen. Thomas von Aquin sorgte schliesslich für die Wiederentdeckung und das erneute Aufblühen dieses freiheitlichen Gedankenguts. Erst der auf Anerkennung der Vernunft und des freien Willens basierende Respekt vor dem Eigentum anderer ermöglichte auf Freiwilligkeit basierende zwischenmenschliche Beziehungen, die Ausweitung unternehmerischen Handelns und damit den Aufstieg Europas.
Der Historiker Ralph Raico erkannte, dass die notwendige Bedingungen für wirtschaftliche Expansion «die Bestimmung und Verteidigung von Eigentumsrechten gegen jegliche politische willkürliche Autorität» waren und dass dies «in Europa früher und besser als an anderen Orten der Welt» gelang. Doch weshalb gerade Europa? David Landes, seinerseits ebenfalls Historiker, führte den Aufstieg Europas auf die einst herrschende radikale Dezentralität auf dem Kontinent zurück: «Aufgrund seiner entscheidenden Rolle als Geburtshelfer und als Machtinstrument in einem Kontext vieler konkurrierender Gebietskörperschaften (im Gegensatz zu den umfassenden Reichen des Orients und der antiken Welt), besass das Unternehmertum im Westen eine politische und soziale Lebendigkeit ohne Vorbild und ohne Gleichen».
Raico beschreibt, wie die Dezentralisierung von Macht auch die Herrschaftsformen innerhalb verschiedener europäischer Staaten prägte: «Dem Feudalismus – der eine Oberschicht hervorbrachte, die sich auf ihr feudales Recht berief und nicht auf ihren Dienst am Staat – wird von vielen Wissenschaftlern eine essenzielle Rolle beigemessen. Im Kampf um Macht in den Hoheitsgebieten entstanden Entitäten, welche das Volk vertreten sollten. Auch wurden den Fürsten durch Verfassungen und Grundrechtsdeklarationen (z.B. Magna Charta), welche ihnen durch die Bürger aufgezwungen wurden, die Hände gebunden. Selbst in relativ kleinen Staaten Europas war die Macht geteilt zwischen Ständen, Orden, verfassten Städten, religiösen Gemeinden, Universitäten und anderen Einheiten, jede mit eigenen, den Mitgliedern garantierten Freiheiten. Die Herrschaft des Rechts wurde so in weiten Teilen des Kontinents etabliert.»
Zusammenfassend lässt sich das Erfolgsrezept Europas als das In-Schach-Halten des raubtierhaften Steuerstaates durch Dezentralität und den damit verbundenen Systemwettbewerb erklären.
Bedingungen für wirtschaftliche Expansion
Das sind nicht einfach Schlussfolgerungen aufgrund ideologischer Mutmassungen, sondern sie halten auch in der heutigen Praxis immer noch empirischen wissenschaftlichen Fakten stand. Sowohl der Index wirtschaftlicher Freiheit als auch der Index der Eigentumsrechte verdeutlichen Jahr für Jahr, dass die wichtigsten Bedingungen für wirtschaftlichen Aufstieg gesicherte Eigentumsrechte und die möglichst geringe Behinderung wirtschaftlicher Aktivität darstellen. In anderen Worten: Ein Land entwickelt sich dann besonders gut, wenn eine möglichst freie Marktwirtschaft und möglichst wenig Sozialismus vorherrschen.
Der beste Garant dafür, dass sich möglichst viele Länder für ein marktwirtschaftliches System entscheiden, ist ein funktionierender Wettbewerb zwischen den politischen Systemen, welcher unter anderem die Möglichkeit der Bürger beinhaltet, mit den Füssen abzustimmen und jenes System zu wählen, das ihnen am ehesten zusagt. Die potenzielle Abwanderung von Produktivkräften und Steuerzahlern hat oftmals eine disziplinierende Wirkung auf die politischen Eliten, weil ihrem natürlichen Machtausweitungstrieb mittels stärkerer Besteuerung dadurch Grenzen gesetzt werden.
Der Systemwettbewerb zwischen der DDR und der BRD verdeutlichte beispielhaft und sinnbildlich die Präferenzen der meisten Menschen, denn die Fluchtbewegungen fanden fast ausschliesslich vom sozialistisch regierten Osten in den marktwirtschaftlich regierten Westen statt. Auch heute kann auf der ganzen Welt beobachtet werden, wie Menschen aus den vom Sozialismus niedergewirtschafteten in kapitalistischere Regionen abwandern, wenn sie denn die Möglichkeit dazu haben.
Schädliche Kartelle und Wettbewerbsabsprachen
Problematisch wird es, wenn Staaten untereinander Kartelle bilden. Ironischerweise werden solche Wettbewerbsabsprachen von keinem Kartellgesetz erfasst. Hier kommen wir zum Punkt, weshalb die Europäische Union der europäischen Idee diametral widerspricht: Sie ist ein institutionalisiertes Kartell zur Unterbindung des Systemwettbewerbs. Zwar muss man der EU zugutehalten, dass auch Grundfreiheiten gewährleistet wurden, wie etwa der freie Kapital- und Güterverkehr, was wirtschaftliche Effizienzgewinne brachte. Jedoch überwiegen heute die Nachteile aufgrund des immer enger geschnürten regulatorischen Korsetts, des fortschreitenden Zentralismus und der penetranten Gleichmacherei, die unter dem schönfärberischen Begriff der «Harmonisierung» vorangetrieben wird.
Erstaunlicherweise gehen auch immer wieder vermeintliche Liberale der EU auf den Leim, wenn sie diese in ihren Harmonisierungsbestrebungen unterstützen: Sie tun dies oft deshalb, weil sie den «kleingeistigen und gefährlichen Nationalismus» verurteilen und sich von der internationalen Verschmelzung der Nationen unter dem Dach einer zentralisierten supranationalen Macht anhaltenden Frieden zwischen allen Teilnehmern erhoffen. Nicht anders kann die panische Angst jener Exponenten vor den Konsequenzen eines Brexits verstanden werden.
Doch die Harmonisierungsbefürworter übersehen einen wichtigen Punkt: Die andere Seite der «Harmonisierungs-Medaille» ist die Ausschaltung des elementar wichtigen Wettbewerbs der Systeme, der Versuch und Irrtum ermöglicht, der Raum lässt für die Nachahmung des Erfolgreichen und das Fallenlassen gescheiterter Rezepte und damit den Bürgern ein optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis staatlicher Leistungen offeriert unter grösstmöglicher Wahrung des Privateigentums. «Harmonisierung» bedeutet folglich nichts anderes als den Bürgern die Wahlfreiheit zu nehmen, die Staatsgewalt im Verhältnis zum Bürger zu stärken und damit der Steuer- und Regulierungs-Tyrannei den roten Teppich auszurollen.
Vorbildfunktion der Schweiz
Welche Rolle hat die Schweiz in Bezug auf diese Betrachtungen? Die Schweiz stellt mit ihren verhältnismässig föderalen Strukturen, ihrem innerstaatlichen Systemwettbewerb zwischen Kantonen und Gemeinden untereinander und der daraus resultierenden verhältnismässig marktwirtschaftlichen Ordnung, in welcher das Privateigentum besser als andernorts geschützt ist, gewissermassen die europäische Idee der Dezentralität im Kleinen dar. Und gerade deshalb funktionieren hierzulande viele Dinge immer noch etwas besser als in anderen Ländern. Obschon die Schweizer der Europäischen Union nicht beitreten wollen, haben die wenigsten das Bedürfnis nach «Abschottung». Es geht vielmehr darum, die Eigenständigkeit zu bewahren, um im Systemwettbewerb eine Alternative anbieten zu können, und die Möglichkeit nicht aus der Hand zu geben, es allenfalls besser als andere zu machen.
Gerade in Zeiten der Neuorientierung gewisser EU-Länder und sich anbahnender möglicher Austrittsbestrebungen kann die Schweiz eine Art Vorbildfunktion übernehmen und aufzeigen, dass auch ein Land, das nicht jegliche supranationalen Zentralisierungs- und Harmonisierungsbestrebungen mitmacht, keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellen muss. Sie könnte aufzeigen, dass ein zurückhaltender Staat Wohlstand für breite Gesellschaftsschichten ermöglicht – dies im Gegensatz zur Staatsaufblähung und Paragraphenflut, welche direkt in die massenhafte Arbeitslosigkeit und in die Armut, zu ausser Kontrolle geratenden öffentlichen Finanzen und zu langfristig nicht tragbarer Verschuldung führt, die mit einer ultraexpansiven Geldpolitik vertuscht werden soll und letztlich die Eigentumsrechte der Bürger aushöhlt.
Die Rolle der Schweiz als Vorbildfunktion wäre es, den liberalen Kompass wieder vermehrt hochzuhalten, anstatt die Fehler der anderen blind zu kopieren. Leider geschieht dies je länger je weniger, wohl auch aufgrund der Tatsache, dass der Wettbewerb der Systeme um die Schweiz herum wegen des EU-Kartells weitestgehend ausgeschaltet ist und hiesige Verstaatlichungen und Interventionen deshalb weniger stark ins Gewicht fallen.
Weil die Schweiz im Verhältnis zu ihren Nachbarn aber viele Dinge immer noch etwas weniger schlecht macht und relativ bessere – also liberalere – Rahmenbedingungen bietet, zieht es nach wie vor viele Unternehmer in die Schweiz – aktuell beispielsweise zu beobachten durch die Ansiedlung zahlreicher Fintech- und Blockchain-Unternehmen im Raum Zürich und Zug – dem sogenannten «Crypto Valley» –, welche an neuartigen dezentralen Plattformen arbeiten, welche Wirtschaft und Gesellschaft in erheblichem Masse transformieren werden und – hier schliesst sich der Kreis – auf dem europäischen Erfolgspfeiler der radikalen Dezentralität basieren. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass es diesen Unternehmen gelingen wird, eine neuartige, freiheitlichere Architektur des Zusammenlebens zu erschaffen, bevor die Zentralisierungs- und Regulierungsbestrebungen der Politik diese Bemühungen zunichtemachen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
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