Letizia Angstmann, Juristin, lebt in England
Am kommenden 29. März 2019, um 23:00 Uhr soll es soweit sein: Das Vereinigte Königreich tritt rechtskräftig aus der Europäischen Union aus.[1] Das Spannendste an diesem Vorgang ist, dass niemand so genau weiss, was ein solcher Austritt bedeutet. Experten aller Bereiche und jeglicher Couleur sind voll der Prophezeiungen für die Zeit danach. Vieles liegt im Dunkeln. Aber untersuchen wir doch stattdessen, was wir bisher gelernt haben.
Das Theater um den «Brexit»
Die Bezeichnung «Brexit» birgt einige Gefahren. Darin verborgen wäre eine an sich rechtlich hochkomplexe Vertragsverhandlung, die entsprechend trocken und formalistisch abgewickelt werden könnte. Jede Partei könnte ihre Interessen und Bedürfnisse geltend machen. Man würde die eigenen Positionen verhandeln und sich auf einen Kompromiss einigen, und damit wäre die Angelegenheit meistens erledigt. Aber da hier nicht Individuen, sondern Staaten Vertragspartner sind, nehmen die politische und vor allem auch die mediale Dimension die Überhand.[2]
Der Begriff «Brexit» ermöglicht eine simplifizierte Sichtweise auf das Geschehen, welche den Medien und Staatsoberhäuptern sehr entgegen kommt. Wer würde denn schon darüber lesen wollen, dass sich die beiden Seiten darauf geeinigt haben an der «Richtlinie 2009/45/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über Sicherheitsvorschriften und -normen für Fahrgastschiffe (Neufassung)» nur minimale Änderungen vorzunehmen? Und das ist noch einer der kurzen Richtlinientitel.
Es ist deshalb nachvollziehbar, dass sich die meisten Zeitungsartikel und Nachrichtenmeldungen um das bevorstehende Scheitern der Verhandlungen drehen, und darum, was politisch möglich ist und was nicht. Insbesondere für Theresa May. Aber wenn man schon einen Vertrag abgeschlossen hat, müsste dann der Fokus nicht viel mehr auf dem rechtlich machbaren liegen?
Dies führte uns zur Problematik, dass wir es vorliegend mit Staaten zu tun haben, und somit mit Subjekten des internationalen Rechts. Ein Gebiet, welches sich gemäss einer Professorin der Universität Zürich wie folgt definiert: «Internationales Recht ist Recht, weil sich die meisten Staaten die meiste Zeit daran halten.»[3] Oft schon habe ich mich gefragt, warum es denn für einzelne Menschen ein Gewaltmonopol braucht. Die halten sich auch die meiste Zeit an das geltende Recht. Aber versuchen wir nicht in die Staatsphilosophie abzudriften und widmen wir uns stattdessen nochmals der «realen» Politik.
Der Begriff «Brexit» verschleiert nicht nur die Tatsache, dass wir es auch mit einem rechtlichen und nicht nur mit einem politischen Problem zu tun haben, sondern er bietet den involvierten Politikern auch die Bühne, auf welcher sie so gerne ihr Theater spielen. Ein Schlagwort wie «Brexit» ist nach den Regeln der Rhetorik viel effektiver. Es vereinfacht das Gesagte, man redet kürzer, bietet dem Zuhörer einen Anker und es erweckt den Anschein der Kompetenz. Die Schauspieler können brillieren.
Die Bühne der Politik. Ist das schon eine Beleidigung? Wir hoffen nicht. Selbstverständlich gibt es viele Unterschiede, aber die Parallelen sind auch nicht zu vernachlässigen: Es gibt Schauspieler (insbesondere Politiker der höheren Exekutive) und Statisten (Volk, Politiker der «unteren» Stufen), Haupt- (das Staatsoberhaupt) und Nebenrollen (der Gesandte), Zuschauer (Fernsehzuschauer) und das Wissen, dass alles nicht ganz «echt» ist. Warum nicht ganz echt? Weil auch die Politiker am Ende des Stücks oftmals keine Verantwortung für ihr Tun übernehmen müssen.
Selbstverständlich ist vieles, was der Mensch macht, politisch, aber bis etwa zur Gründung des modernen Sozialstaates musste «Jeder» und «Jede» mit Konsequenzen rechnen, wenn er oder sie sich politisch betätigte. Verantwortung und Privileg gingen Hand in Hand. Die jetzigen Akteure können es sich aber leisten, zu stören, abzuwarten, zu provozieren oder sich gleich ganz zu verweigern. Und das tun sie auch.
Wenn aber Individuen diese Verhandlungen führen müssten, die später auch zur Rechenschaft gezogen werden könnten und deren eigenes Vermögen für ein Scheitern haften würde, frage ich mich, ob diese sich einer Lösung in den Weg stellen würden?
Bedürfnis nach Sicherheit?
Der Austritt wirft auch ein interessantes Licht auf ein altes menschliches Bedürfnis. Das Bedürfnis nach Sicherheit. Die Menschen scheinen gemäss den Medien das Unwissen über die Zukunft als quälend zu empfinden. Wenn man genauer hinschaut, sind es in erster Linie die Unternehmen, welche sich angesichts der vielen offenen Fragen am meisten Sorgen machen. So traf etwa der CEO von ThyssenKrupp im Vereinigten Königreich im The Guardian vom 12. November 2018 folgende Aussage: «Once the UK leaves the customs union there will be barriers and possibly duties and tariffs to be paid. At the very least there will be paperwork. These are the very real concerns companies like us have.»
So weit, so nachvollziehbar. Was hingegen erstaunt, ist der Zeitpunkt insbesondere des zweiten Teils des Zitats: Es gäbe viel Papierkram zu erledigen. Meint er wirklich im Gegensatz zum jetzigen Zustand? Selbstverständlich hat etwa der freie Personenverkehr insofern Vereinfachungen gebracht, als wir jetzt einen rechtlichen Anspruch auf gewisse Dinge haben. Die tägliche Bürokratie und der damit verbundene Papierkram haben dadurch allerdings nicht abgenommen.
Gewiss sind Zölle und alle andere Arten wirtschaftlicher Barrieren immer ein Problem aus liberaler Sicht, aber die zunehmende Bürokratisierung der Wirtschaft auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zurückzuführen, zielt dennoch ins Leere.
Dass immer mehr Regeln und «compliance rules» einzuhalten sind, hängt einzig und allein mit der zugenommenen Verstaatlichung aller sozialer und ökonomischen Prozesse zusammen. Auch das Argument der Globalisierung und der damit verbundenen Frage nach den Gewinnern und Verlierern ändert nichts an dieser Aussage. Innerhalb des politischen Systems wird es nämlich für notwendig erachtet, diese «Globalisierung» möglichst zu regulieren. Entsprechend wissen wir bis heute nicht wirklich, wer aus welchem Grund genau Gewinner oder Verlierer sein soll.
So gesehen fürchten sich britische Unternehmer (und wohl auch viele Bürger) nicht aufgrund eines Zustandes der Ignoranz, sondern weil sich vieles ändern wird. Der Papierkram, den ich kenne, steht mir näher als der, den ich noch nicht gesehen habe. Auch das ist psychologisch erklärbar und verständlich, aber rational wird es dadurch nicht.
In England überwiegt in den Medien und Umfragen nach wie vor die Ansicht, es werde zu einem «disastrous no-deal»-Szenario kommen.[4] Dass man also keine Ahnung habe, wie es weitergehen könnte, und dass diese Unsicherheit der Wirtschaft schade. Es fragt sich aber, wie denn die Austrittsgegner argumentieren würden, wenn schon ein genaues Abkommen vorliegen würde. Dann könnte man planen. Wäre dann alles in Ordnung? Dies darf bezweifelt werden, denn dann wäre ja immer noch zukünftig alles anders, und das ist den sogenannten «Remainers» unsicher genug.
Fehlende oder asymmetrische Informationen, wie das fehlende Wissen über die Konsequenzen des Austritts, sind im Übrigen ein altbekanntes Problem des Unternehmertums. Gerade das Durchstehen solcher Herausforderungen macht einen erfolgreichen Unternehmer oder eine erfolgreiche Unternehmerin so bewundernswert. Die Misere der jetzigen Situation liegt aber darin, dass die in der Öffentlichkeit fehlenden Informationen in den Händen der oben genannten Schauspieler liegen, welche der Erfahrung nach nicht so rational wie ein selbstverantwortliches Individuum handeln. Da leuchtet einem das Gefühl der Unsicherheit wieder sehr gut ein.
Der durchschnittliche britische Staatsbürger scheint sich gemäss Umfragen nicht sonderlich für die Details der Austrittsverhandlungen zu interessieren: 69% der Befragten wissen nicht, worum es im Chequers Deal, Theresa Mays «soft deal»-Vorschlag, geht.[5] Verhält sich so ein panisches Volk? Es ist noch offen, wer der Inselbewohner vom bevorstehenden Austritt eigentlich in Angst und Schrecken versetzt wurde.
Die eigene Geschichte vergessen
Zuletzt sollte es einen wohl nicht erstaunen, wie schnell der Mensch vergisst. Es entsteht der falsche Eindruck, dass die EU schon seit ewig bestanden hat und dass es davor nur Weltkriege und einsame Staaten gegeben hat, die sich leidvoll selbstversorgen mussten. Dem ist natürlich nicht so. Das Königreich wird nach dem Austritt nicht einfach in ein rechtliches Vakuum fallen. Hierzu gibt es viele Beispiele. Nennen wir hier nur zwei: das «Abkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich von Grossbritannien und Nordirland über Soziale Sicherheit», und das «Agreement between the United Kingdom and France respecting the Parcel Post Service between British India and France» von 1907, welches offenbar noch heute in Kraft ist.
Spannend ist auch, dass mit dem Cobden-Chevalier Vertrag von 1860 zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich einer der ersten modernen Handelsverträge geschlossen wurde. Noch spannender ist, dass Frankreich diesen Vertrag 1892 kündigte, weil es mit dem Méline Tarif protektionistische Massnahmen vornehmen wollte.
Um das wirtschaftliche und rechtliche Potential der Vergangenheit zu nutzen, müssten die verhandelnden Personen natürlich den nötigen Willen dazu haben. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Es muss alles genau so bleiben, wie man es heute kennt.
Die meisten Staaten Europas pflegten engen Kontakt und schlossen Verträge, lange vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon. Die desaströsen Kriege haben diese Prozesse jeweils verlangsamt oder gleich ganz gestoppt. Der Wendepunkt war aber nicht die Gründung der EU, sondern die Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) von 1951. Die These, dass wirtschaftlicher Tausch zwischen Staaten Kriege erschweren oder gar ganz verhindern kann, stimmt regelmässig, aber leider nicht immer. Das Europa des 1. Weltkrieges ist Beweis hierfür. Dass aber ein immer näheres Zusammenrücken und zunehmende Zentralisierung Gewalt verhindern könnten, ist genauso illusorisch. Dies zeigen die Beispiele des römischen Reichs und der Vereinigten Staaten von Amerika. Das funktioniert nur, wenn die Bürger freiwillig die Beziehung intensivieren wollen. Ein ständiges Drängen seitens Brüssels ist dem nicht gleichzusetzen.
Und wenn die EU das wunderbarste Friedenswerk aller Zeiten sein möchte, so sollte sie ihre Mitglieder auch in Frieden gehen lassen können. Vor allem auch solche, die von Anfang an immer nur zögernd mitmachten. Vergessen wir nicht, dass das Vereinigte Königreich und andere europäische Staaten schon seit längerer Zeit ein Interesse daran hatten, in Frieden Handel miteinander zu treiben. Und sie werden das mit sehr hoher Wahrscheinlich wohl auch in Zukunft wollen.
Hoffnung?
Die Briten müssten einem angesichts der aktuellen Nachrichten eigentlich Leid tun. Der durchschnittliche Schweizer macht sich aber wahrscheinlich weniger Sorgen um das Inselreich als die Mehrheit der Franzosen und die Briten selbst. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass wir bis anhin auch ausserhalb der EU recht gut überlebt haben. Aber die Schweiz ist nicht das einzige Beispiel, das man auf der Suche nach einem Hoffnungsschimmer etwas genauer anschauen könnte. Auch in Nordirland, welches an sich momentan den Hauptzankapfel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich darstellt, findet man Grund zur Hoffnung. Zwar ist natürlich auch Nordirland nach wie vor Teil der EU, aber den Nordiren fehlt seit Januar 2017 eine ausführende Regierung. Eine Analyse hierzu finden wir bei der BBC: «There is no doubt that Northern Ireland will survive this political vacuum, with local government also carrying out many tasks and Westminster responsible for matters including national security, international relations and defence.»[6] Beispiele dieser Art gäbe es noch viele mehr. Wie etwa kürzlich in Deutschland nach den Wahlen, oder in Belgien 2010/11.
Was lernen wir daraus? Grundsätzlich einmal, dass eine Gesellschaft erstaunlich lange ohne oder mit einer sehr ohnmächtigen Regierung überlebt und dass die Einführung neuer Gesetze offenbar nicht immer so dringend ist, wie das manche Politiker vorgeben. Dass es also vielleicht auch ohne staatliche Gesetze oder EU-Verordnungen irgendwie weitergehen kann. Ob eine Regierung etwas Gutes oder Schlechtes ist, ob die EU sinnvoll ist oder nicht, sind nicht die Hauptfragen. Es gäbe mit der Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich eine Lösung, und diese kann so auch gelingen, wenn der Wille dazu da ist. Wenn aber, wie es einige Austrittsgegner tun, schon fast der Weltuntergang herbeigepredigt wird, ist immer eine gewisse Vorsicht geboten, denn der angeblich drohende Weltuntergang ist bisher noch nie eingetreten. Andererseits stimmt es natürlich auch, dass es für alles ein erstes Mal gibt. Wer weiss? Die Frage wäre dann lediglich, ob die «Leavers» oder die Politiker Schuld daran trügen.
[1] Die aktuellen Nachrichten hierzu ändern momentan fast täglich. Sicher ist noch nichts.
[2] Dass die EU als Rechtssubjekt aus 27 Staaten zusammengesetzt ist, verkompliziert die Sache. Aber eine Auseinandersetzung damit würde viel zu tief in die dunklen Gewässer des öffentlichen und internationalen Rechts führen.
[3] Zitat aus einer besuchten Vorlesung.
[4] So etwa der The Guardian vom 31. Oktober 2018.
[5] Siehe https://yougov.co.uk/news/2018/09/12/how-public-feel-about-brexit-options/ (besucht am 2. November 2018).
[6] Siehe https://www.bbc.com/news/uk-politics-42570823 (besucht am 30. Oktober 2018).