Lahor Jakrlin, Werber, Kommunikationsberater und Publizist
Das kurze Leben des Wirtschaftswissenschaftlers Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew (1892-1938) vereinigt alle Elemente der politischen und shakespearischen Tragödie, wie sie nur die Geschichte der Revolution oder des real existierenden Sozialismus (beginnend vor nun 100 Jahren) schreiben kann. Hier der Versuch einer Kurzbiografie.
Ikarus’ hoher Flug und tiefer Sturz
Der einfache und intelligente, initiative Bauernsohn Kondratjew trat der Sozialistischen Partei bei, wurde mehrfach verhaftet (erstmals als 13-Jähriger), erkämpfte sich die Matura, studierte Recht und arbeitete ab 1915 in der Verwaltung – zuerst in der zaristischen. Er beteiligte sich 1917 an der Februarrevolution (Ende der Zarenherrschaft und Versuch einer Parlamentsdemokratie), wurde in die Nationalversammlung gewählt und avancierte erst 27-jährig zum stellvertretenden Ernährungsminister. Nach der Oktoberrevolution (gewaltsame Machtübernahme durch die Bolschewiken, Geburt der sozialistischen Alleinherrschaft) zählte er zum innersten Zirkel der Nomenklatura, gründete 1920 das Konjunkturinstitut und war wesentlich an der Erarbeitung des ersten Fünfjahresplans beteiligt. So weit, so gut – die typische Karriere eines linken Kaderbeamten, wie sie auch heute noch in Bundesbern hundertfach beobachtet werden kann.
Doch Kondratjew dachte weiter, er vertrat grundsätzlich marktwirtschaftliche Strukturen und publizierte 1926 – zwei Jahre nach der Machtübernahme durch Stalin – seine Forschungsergebnisse zu den Langen Wellen der Konjunktur. Damit beerdigte er seine Karriere: Er fiel in Ungnade, sein Institut wurde geschlossen, er verlor seine Arbeit, 1930 wurde er erstmals wegen konterrevolutionärer Gesinnung zu Gefängnis (Einzelhaft) verurteilt und 1938 während der Grossen Säuberung nach einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt und gleichentags erschossen.
Was war Kondratjews Verbrechen?
Seine wirtschaftliche Forschung führte ihn zur Einsicht, dass im marktwirtschaftlichen System grosse technologische Innovationen ökonomische Epochen («ages») auslösen, wodurch sich das System immer wieder regeneriert. Dieser Widerspruch zu Denkmustern der sozialistischen oder (heute) rotgrünen Ökonomie – staatliche Regulierung oder Planwirtschaft – kam im Einparteiensystem dem Todesurteil gleich.
Die Langen Wellen
Auf den Punkt gebracht besagt die Geschichte der modernen Wirtschaft nichts anderes, als dass technologische Innovationen Herz und Seele des Aufschwungs und der wirtschaftlichen Regeneration sind. Die Dampfmaschine erzeugte die Massenproduktion, die Eisenbahn (und Dampfschifffahrt) ermöglichte den überregionalen und internationalen Handel in grossem Umfang, Elektrotechnik und Chemie eröffneten unerwartete Serien-Produktivitätsperspektiven, das Auto führte zu einem gewaltigen Mobilitätsschub mit Millionen von modernen Arbeitsplätzen in Industrie, Zulieferbranchen (Textile, Leder, Kautschuk …) und Touristik, usw. usf.
Alle diese technologischen Innovationen belebten die Wirtschaft in extremer Form, sie bildeten den Boden für Start-ups (ja, schon im 19. Jahrhundert begannen alle Unternehmen als Start-ups und KMU) und damit für neue Arbeits- und Erwerbsplätze, Forschung und Wohlfahrt. Der US-amerikanische Philosoph und Bioethiker Daniel Callahan (*1930) formulierte die Bedeutung des technologischen Fortschritts so: «To be human is to be technological». Was sich seit der Steinzeit unwiderlegbar bestätigt.
In meiner Grafik habe ich Kondratjews Wellen bis ins Heute weitergezogen. Ich hätte sie gerne bis ins Jahr 2100 oder noch weiter extrapoliert, doch das kann niemand. Niemand kann voraussehen, welche Idee – irgendwo auf der Welt – um 2040 oder 2050 die Weltwirtschaft in neuen Schwung bringen wird. Das versuchen Sozialisten und Grüne zwar (siehe die durchgefallene Initiative für eine «Grüne Wirtschaft» im September 2016), müssen damit aber zwangsweise immer grandios scheitern: Die Zukunft lässt sich nur kurzfristig planen.
Kondratjews Theorie bleibt also auch in Zukunft gültig, nur sind die Langen Wellen mit der Globalisierung und digitalen Kommunikation immer kürzer geworden – schätzte Kondratjew eine Konjunkturwelle auf 50 Jahre, sind es heute Zyklen von etwa 10 Jahren. Zudem kommt es zu parallelen Zyklen. So steht das Heute zweifellos im Zeichen der Digitalisierung, andererseits gehen aber auch gewaltige Impulse für den globalen Finanzmarkt von neuen geopolitischen Phänomenen aus. Man denke etwa an die Investitionspolitik (eigentliche Marktübernahmen) Chinas in Ostafrika, in Südamerika und selbst in den USA.
Zynisch aber wahr: Alles ist Zufall
Das einzige gedankliche «Element», welches Kondratjew in seinen Arbeiten nicht verwendete (soweit ich das feststellen konnte), ist der Zufall. Jede Welle begann mit einer Reihe nicht planbarer Ideen, also in Zufällen. Man stelle sich nur vor, wie die Welt heute aussähe, hätte die Wirtschaft seit Henry Ford nicht auf das Auto gesetzt? Oder am Cern wäre das Internet nicht geboren worden? Oder Amazon hätte nicht die Digitalisierung der Weltwirtschaft provoziert? Oder Elon Musk und Kurt Schär hätten nicht mit Tesla und dem Flyer ein Must have der oberen Mittelschicht realisiert?
Es handelt sich immer um ungeplante, «zugefallene» Eingebungen von innovativen Geistern (UnternehmerInnen), Eingebungen, die sich lawinenartig ausweiteten.
Nun lassen sich Zufälle leider nicht planen. Wären sie planbar, wir hätten längst Impfungen gegen jede Krankheit (AIDS, Diabetes, Krebs, MS … alles wäre längst besiegt) und alle Menschen wären nicht nur mit den gleichen Chancen, sondern auch gleichen Talenten und Fähigkeiten ausgestattet.
Warum der Sozialismus immer scheitert
Es ist schon ernüchternd festzustellen, dass alle sozialistischen Systeme misslingen. Jeder Versuch, die planwirtschaftlichen Experimente schönzureden, misslingt – am Ende zieht der Kollektivismus gegenüber der Marktwirtschaft ohne Ausnahme den Kürzeren. Sozialistischen Systeme bankrottieren, sobald sie nicht mehr gefüttert (subventioniert, querfinanziert) werden, eine innere Regeneration ist ihnen nicht möglich. Der Bogen kann von der Sowjetunion bis ins Heute gezogen werden – Nordkorea, Venezuela, Kuba. Wo private unternehmerische Initiative verhindert oder gar verboten wird, fallen Systeme immer in sich zusammen.
Bitte nicht falsch verstehen: Selbstverständlich waren Linke an der Verbesserung der sozialen Bedingungen (z.B. AHV oder Bildung für alle) beteiligt! Das darf jedoch nicht davon ablenken, dass die Marktwirtschaft die gleichen sozialen Ziele verfolgt – der «Kapitalismus» weiss seit den Fuggern und Zünften sehr wohl, dass er nur funktionieren kann, wenn Sicherheit und Kaufkraft (Wohlstand) erhalten und gestärkt werden. Linke blenden diese Binsenwahrheit, welche jeder Gewerbler oder Dorfbäcker verinnerlicht hat, aus: Ich kann nur verkaufen, was gewünscht wird und was sich die Konsumenten leisten können.
Hat das Wissen über Kondratjews Theorie Konsequenzen?
Leider nicht im erwünschten Masse. Weiterhin prägt Sozialromantik statt Realität die politische Agenda des Westens. Jede linke Vorlage verfolgt – meist auf rein theoretischen Grundlagen – das gleiche ideologische Ziel: Verdrängen der Wirklichkeit. Dass dies jungen Menschen erlaubt sein soll, stelle ich nicht in Abrede.
Aber ich sehe den linken Politleadern und ihren medialen Steigbügelhaltern etwa in der SRF-Arena zu und greife mir jeweils an den Kopf: Glauben diese (die Auswahl sei für einmal auf die Schweiz reduziert) Binswanger und Lampart Daniels, Levrats, Badrans, Maillards und Wermuths wirklich, was sie behaupten und fordern? Oder sind sie nur abgrundtief böse Sadisten?