Dass die Wohlfahrtsstaaten Europas an der Grenze ihrer Finanzierbarkeit angelangt sind, wird heute – von rechts bis links – kaum mehr ernsthaft bestritten. Uneinigkeit besteht allerdings bei den politischen Rezepten, die für deren Sanierung angeboten werden. In den meisten westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten gibt es heute – wie in der Schweiz – eine mehr oder weniger formell abgestützte „grosse Koalition“, welche die Auffassung vertritt, der umverteilende Wohlfahrtsstaat sei eine zivilisatorische Errungenschaft, welche Bürgertum und Sozialdemokratie gemeinsam entwickelt hätten und die es im Prinzip zu erhalten gelte, weil sie eine positive „soziale Funktion“ erfülle und weil sie den inneren wie den äusseren Frieden gewährleiste. Es sind dieselben grossen Mehrheiten, welche um die prekäre Finanzierungsbasis wissen und gleichzeitig auf keine der gewährleisteten Umverteilungen, Leistungen und Lenkungen verzichten möchten: Eine grosse Koalition des Verdrängens und Hinausschiebens, welche das politische Publikum durch allerlei Scheingefechte schlecht und recht unterhält. Alle wollen bei den „andern“ ein bisschen sparen und kürzen und bei den „andern“ ein bisschen mehr Steuern hereinholen, aber bitte nur so viel, dass es der eigenen Klientel keinesfalls weh tut und dass die Reform „in kleinen Schritten“, ohne politische Risiken und ohne grundsätzliche Auseinandersetzungen abläuft. Das Problem soll durch jenes „Wirtschaftswachstum“ gelöst werden, das gleichzeitig durch die populistische Koalition von Wirtschafts-, Technik- und Wachstumsfeinden aktiv bekämpft wird.
Das Mehrheitsprinzip wird in der Weise missbraucht, dass „die andern“ stets eine Minderheit bilden: die Minderheit der Produktiven (bei der progressiven Reichtumssteuer), die Minderheit der auf intergenerationelle finanzielle Eigenständigkeit bedachten Sparer (bei der Erbschaftssteuer) und die Minderheit jener Sparer und Anleger, die sich nicht gleichzeitig verschulden wollten und darum durch Inflation am härtesten getroffen werden.
Das Problem ist zu ernst, als dass man es der derzeitigen politischen Klasse überlassen dürfte, die in erster Linie an die nächsten Wahlen denkt und nicht an die nächsten Generationen. Die Staatsbürokratie ist in diesem Zusammenhang befangen, und sie hat sich bisher selten durch Mut und Weitsicht profiliert. Man wird angesichts dieser Probleme oft unwillkürlich an das Andersen-Märchen von „Kaisers neuen Kleidern“ erinnert. Unter den Betroffenen und Beteiligten hat kaum jemand den Mut, jene Wahrheit offen auszusprechen, dass nämlich der fast unbegrenzt populäre „Kaiser Wohlfahrtsstaat“ sowohl finanziell als auch ethisch-moralisch heute ziemlich nackt dasteht. Ja, es gibt zwar Think-tanks, die darauf hinweisen und einige mutige Wissenschafter an staatlich finanzierten Hochschulen, die, wie einst Kassandra im Trojanischen Krieg, gegen eine Mehrheit von linientreuen etatistischen „Beschwichtigern“ antreten und deshalb als Aussenseiter stigmatisiert werden.
Die Kleider, die aus jenem politischen Lügenstoff gewoben sind, den angeblich nur gescheite Leute sehen, existieren gar nicht, aber kaum jemand hat den Mut, Klartext zu reden. Der Wohlfahrtsstaat hat nicht nur ein finanzielles Problem, die Verschuldung zu Lasten der noch nicht Geborenen, er muss sich auch vorwerfen lassen, dass seine sozialen Institutionen die Menschen nicht sozialer gemacht haben, sondern asozialer: ein Teufelskreis! Auch das „soziale Mäntelchen“ war eine gefährliche Illusion, und nicht nur die zwar versprochene aber nicht einlösbare dauernde Finanzierbarkeit durch Verschuldung, Umverteilung, Umlage und Inflation.
Erweiterte und ergänzte Version eines Beitrags auf der Webseite der Hayek Gesellschaft.
Robert Nef ist Publizist, Autor und Gründer des Liberalen Instituts.