Kaum ein Tag vergeht in einem westlichen Land, ohne dass ein neues Gesetz den Bürgern vorschreibt, was sie essen, trinken, rauchen, sehen oder lesen dürfen, oder eben auch nicht. Der Güteraustausch, Finanztransaktionen und der Arbeitsmarkt werden so zunehmend reguliert – angeblich um die Individuen vor sich selbst zu schützen. Die Schweiz ist hier keine Ausnahme. Der Bundesrat machte jüngst von sich reden, als er die Kinderbetreuung durch Nahestehende einer Bewilligung unterstellen wollte. In eine ähnliche Richtung zielt auch sein Gesetzesentwurf zur Gesundheitsförderung und -prävention.
Schritt für Schritt drohen die sich stets ausweitenden Massnahmen dieses Staatspaternalismus zu einem neuen Totalitarismus auszuwachsen. Paternalistische Interventionen sind umso gefährlicher, weil sie auf guten Absichten beruhen. Die unvermeidbare Folge ist eine Infantilisierung der Bürger: Individuen werden für ihre Taten nicht mehr als verantwortlich betrachtet, und müssen deshalb immer weiteren Präventionszwangsmassnahmen ausgesetzt werden. So entsteht ein Teufelskreis, denn die paternalistischen Massnahmen führen zu einer Schwächung der individuellen Anreize, sich verantwortungsvoll zu verhalten. Wie geht man aber in einer freien Gesellschaft mit Leuten um, die sich durch eigene Entscheide in Not bringen? Postuliert man ein „Recht“ auf Hilfe, so entstehen Anreize zu einem risikoreichen Verhalten. Dies zeigt die Wirkung des Sozialstaats, der einerseits die Folgen verantwortungslosen Verhaltens mildert und dabei zugleich die Teilnehmer entmündigt. Je grösser der Umfang der Sozialversicherung, desto aufdringlicher wird auch der Staatspaternalismus. Da kollektivierte Sozialsysteme unflexibel sind und dabei enorme Kosten verursachen, versucht die Politik individuelles Verhalten den Systemen anzupassen, nicht umgekehrt.
Begründet wird das sozialstaatliche Abrutschen in den Paternalismus häufig mit Hilfe des Utilitarismus. Umverteilung ist demnach gerechtfertigt, weil der Nutzengewinn einer bedürftigen Person grösser sein soll, als der Schaden des belasteten Gegenübers. Offensichtlich beruht diese Begründung jedoch auf einer Chimäre, denn die Messung und der Vergleich des interpersonellen Nutzens sind schlicht nicht möglich. Die utilitaristische Sicht des Sozialstaats ist jedoch nicht nur theoretisch schwach, sie beruht auch auf einem bedenklichen Menschenbild: Das Individuum wird hier nicht mehr als souveräne und rationale Person betrachtet, sondern als Wesen mit blossen Verhaltensproblemen, die korrigiert werden müssen. Präventionsmassnahmen, welche auf Zwang beruhen, erhalten damit eine ethisch unreflektierte „eingebaute“ Legitimation.
Der Staatspaternalismus begnügt sich folglich auch nicht damit, das Verhalten bedürftiger Personen zu korrigieren – da der Sozialstaat alle Bürger umfasst, wird die gesamte Gesellschaft entmündigenden erzieherischen Massnahmen ausgesetzt. Zugleich ist der paternalistische Sozialstaat immer weniger geneigt, die Auszahlung von Leistungen abzulehnen, selbst an Individuen, die sich seiner Abhängigkeit absichtlich unterwerfen. Die umfassende „Betreuung“ der Gesellschaft liegt in der Logik des Systems. So muss in der Praxis bedingungslose Sozialhilfe mit zahlreichen Zwangsabzügen für Altersvorsorge und Sozialversicherungen, Tabak- und Junkfoodsteuern mit kostenloser medizinischer Versorgung oder Heroinabgabe an Süchtige mit dem allgemeinen Konsumverbot dieser Substanz gekoppelt werden.
Wie dieses System schliesslich zu einem totalitären verkommen kann, zeigte jüngst der brillante Krimi „Corpus Delicti“ der Erfolgsautorin Juli Zeh, im Luzerner Theater in Szene gesetzt vom Schweizer Filmemacher Samir. Das Stück portraitiert eine Diktatur aus dem Jahr 2057, in welcher Gesundheit zur höchsten Bürgerpflicht geworden ist. Der Staat verlangt ein fixes Sportpensum ebenso wie die Abgabe von Schlaf- und Ernährungsberichten. Es zeigt auf erschreckend realistische Weise ein System, das im Dienste der Prävention alle und alles kontrolliert. Noch sind wir zum Glück nicht so weit. Die erkennbaren Trends sind jedoch besorgniserregend. Wichtig ist daher vorallem, den ethischen Wert der individuellen Freiheit neu zu entdecken. Eigenverantwortung, zwischenmenschliche Solidarität und privatwirtschaftliche Vorsorge und Sozialversorgung bieten nicht nur eine vielfältigere und effizientere Alternative zur paternalistischen Sozialbürokratie – sie sind vor allem auch die Voraussetzung für eine menschenwürdige und lebendige Zivilgesellschaft.
Pierre Bessard ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich.