Die zunehmende finanzielle Repression zeigt sich in extrem niedrigen Zinsen und Freiheitseinschränkungen. Sparer und Anleger werden aufgrund der ultraniedrigen Zinsen um Erträge bei der Altersvorsorge gebracht. Mit der zunehmenden finanziellen Repression dürfte sich die Lage noch verschlechtern.
Wer derzeit Geld anlegen und für das Alter vorsorgen will, findet sich in einer regelrechten «Anlage-Wüste» wieder. Dies zeigt sich besonders bei Obligationen: Gemäss einer Statistik des Rückversicherers Swiss Re hatten im September 2015 in Europa rund 65 Prozent aller emittierten Staatsobligationen eine Rendite von weniger als 1 Prozent. Ein Viertel der europäischen Staatsobligationen rentierte sogar im negativen Bereich, also unter 0 Prozent. Seitdem dürfte sich die Situation noch zugespitzt haben. Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg Anfang Februar 2016 meldete, betrug das Volumen von Staatsanleihen mit negativer Rendite damals mehr als 7000 Milliarden Dollar, ihr Anteil an einem Bloomberg-Index für Anleihen von Industrieländern weltweit machte 29 Prozent aus. Allzu viel können Investoren von Obligationen-Anlagen in den kommenden Jahren nicht erwarten.
Auch bei den Aktien drohen nach guten Anlagejahren schwierigere Zeiten, wie der verhagelte Start in das Jahr 2016 zeigt. Die Hausse der vergangenen Jahre dürfte stark mit der Geldschwemme der Zentralbanken verbunden gewesen sein, und die dadurch ausgelöste Inflation der Vermögenspreise wird sich kaum als nachhaltig erweisen. Die Geldflut der Notenbanken hat in den vergangenen Jahren auch zu immer höheren Immobilienpreisen geführt. Die Preise für Liegenschaften in der Schweiz befinden sich nun gemäss Branchenindizes aber in zahlreichen Regionen in der Risikozone. Viele Sparer und Anleger sind deshalb sehr zurückhaltend und lassen grosse Summen einfach auf dem Konto liegen, anstatt diese anzulegen.
Heimlich enteignete Bürger
Der Franken-Schock, also die Aufhebung der Mindestgrenze des Euro zum Franken durch die Schweizerische Nationalbank am 15. Januar 2015, hat die Geldanlage für Schweizer noch erschwert. Die Dürre bei den Anlagemöglichkeiten ist aber in erster Linie die Folge einer internationalen Entwicklung, die unter dem Namen finanzielle Repression bekannt ist.
Diese hat viele Aspekte. Der wichtigste und bereits stark spürbare Effekt ist das extrem niedrige bis sogar negative Zinsniveau. So werden Sparer bereits seit Jahren heimlich um Renditen auf ihre Ersparnisse gebracht. Die jüngsten Krisen in Griechenland und Zypern haben derweil gezeigt, was in nächsten Phasen der Krise auch in anderen Ländern drohen könnte: Dazu gehören beispielsweise Kapitalverkehrskontrollen oder Einschränkungen beim Zugang zu Konten und Schliessfächern bei Banken. Höhere Steuern auf Spareinlagen, wie beispielsweise Spanien sie eingeführt hat, zählen ebenfalls zum «Giftschrank» der finanziellen Repression. In Ländern wie Italien und Frankreich kommt es längst zu Einschränkungen beim Bargeldverkehr, wenn auch unter dem Deckmantel der Geldwäscherei-Bekämpfung. Die deutsche Bundesregierung plant ebenfalls eine Obergrenze für Bargeldgeschäfte, während der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) den 500-Euro-Schein gleich abschaffen will. Der Internationale Währungsfonds (IMF) hat bereits über die Möglichkeit einer einmaligen, zehnprozentigen Abgabe auf alle Vermögen des Privatsektors diskutiert, um der Schuldenkrise zu begegnen. Da ein Ende der Schuldenwirtschaft von Staaten und Banken nicht absehbar ist und der «Schuldenturm» sogar weiter wächst, werden solche politischen Massnahmen mehr und mehr salonfähig, um ein Einstürzen desselben zu verhindern. Für Sparer und Anleger sind das schlechte Aussichten.
Die Zinsen könnten gar nicht steigen, solange das Verschuldungsproblem nicht gelöst sei, sagt Daniel Stelter, ehemaliger Unternehmensberater und Autor mehrerer Bücher zur Schuldenkrise. Er beschreibt die Situation mit folgendem Bild: Um den riesigen, zunehmend wackligen «Schuldenturm» zu stabilisieren, gössen die Zentralbanken mit ihrer expansiven Geldpolitik unten Zement hinein. Gleichzeitig bauten Staaten und Private oben aber immer weitere «Schulden-Stockwerke». Die zarte konjunkturelle Erholung in Europa basiere vor allem auf Kreditwachstum.
Da die Politik sich weigert, das Problem direkt anzugehen, dürften Regierungen zu noch drastischeren Massnahmen der finanziellen Repression greifen, wenn die Konjunktur nachlässt. So sind beispielsweise noch tiefere Negativzinsen und weitere Einschränkungen beim Bargeldverkehr in europäischen Ländern zu erwarten. Als einer der nächsten Schritte in der finanziellen Repression erscheinen auch starke Einschränkungen beim Besitz von Gold denkbar, wie es sie beispielsweise in den USA ab 1933 gab.
Negativzinsen als «Steuer»
Letztlich ist das dahinterstehende Ziel, die Bürger stärker zu kontrollieren und im Falle noch tieferer Negativzinsen zu verhindern, dass die Sparer in Massen ihr Geld bei den Banken abheben. Der Wille der staatlichen Akteure ist es, Sparer und Wohlhabende daran zu hindern, ihre Vermögen zu retten, diese aus dem System zu schaffen oder in andere Länder zu bringen. Stelter sieht Negativzinsen als eine Art Steuer, mit der Geld von Sparern zu Schuldnern umverteilt wird.
Auch Philipp Vorndran von der Vermögensverwaltungsgesellschaft Flossbach von Storch erwartet für die kommenden Jahre keine Entspannung beim Zustand der Staatsfinanzen. So rechnet er damit, dass die finanzielle Repression in Europa, Japan und den USA weiter zunimmt. Es würde ihn auch nicht überraschen, wenn die Politik künftig – im Namen der «sozialen Gerechtigkeit» – die Vermögen und Einkünfte der Wohlhabenden noch stärker zur Melkkuh der Umverteilung machen würde. Eines der Argumente hierfür könnte sein, dass diese Bevölkerungsgruppe besonders von der expansiven Geldpolitik der vergangenen Jahre profitiert hat. Schliesslich haben sich die Kurse von riskanten Anlagen wie Aktien, Immobilien oder sonstigen Sachwerten, die bei Wohlhabenden stärker verbreitet sind als beim risikoaversen Durchschnitt der Bevölkerung, in den vergangenen Jahren sehr gut entwickelt.
Dafür, dass die finanzielle Repression und die damit verbundene Schmälerung von Vermögen auch in den kommenden Jahren anhält, spricht auch die Tatsache, dass sie ein Instrument darstellt, um Staatsschulden abzubauen. Wie eine Statistik von Swiss Re auf Basis von Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zeigt, trug sie massgeblich dazu bei, dass die Staatsverschuldung in den USA im Zeitraum 1945 bis 1955 von 116 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) auf 66 Prozent fiel. Ohne finanzielle Repression hätte der Wert 1955 gemäss den Schätzungen 144 Prozent betragen. Ein Index des Rückversicherers zeigt, dass sich die finanzielle Repression zurzeit weiterhin auf hohem Niveau bewegt.
Swiss Re warnt vor den Nebenwirkungen der ultraexpansiven Geldpolitik der Notenbanken. Solch expansive Massnahmen wie derzeit wären allenfalls in einer grossen Krise angebracht – als Krisenmanagement, aber nicht für deren Lösung. Die Kosten der finanziellen Repression dürften mittlerweile deutlich grösser als der Nutzen sein.
Gefahren der Entwicklung
Aufgrund der repressiven Politik werden Gelder in Märkte geleitet, in die sie normalerweise nicht fliessen würden. Dies führt zu Ungleichgewichten. Die Finanzmärkte können ihre «Urfunktion», Kapital dorthin zu bringen, wo es am effizientesten arbeitet, unter diesen Umständen kaum mehr erbringen. Ausserdem drohen durch diese Politik Blasen in gewissen Anlagemärkten zu entstehen. Dies dürfte mittel- bis längerfristig erhebliche Folgen für die Altersvorsorge der Bürger haben.
Die Verpflichtungen von Pensionskassen sind gemäss der Swiss Re jüngst bereits sehr stark gestiegen. Schon heute müssen Bürger deutlich mehr einzahlen, um dieselbe Rente wie früher zu erhalten. Eine grobe Rechnung zeigt, dass infolge der niedrigeren Zinsen ein 50-jähriger Schweizer bereits gegenwärtig rund 700 Fr. monatlich mehr sparen müsste, um ab dem Ruhestand über 30 Jahre hinweg eine monatliche Rente von 3000 Fr. zu erhalten.
Ausserdem haben die Vorsorgeeinrichtungen zunehmend schlechtere Chancen, die zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen nötigen Erträge zu erzielen. Bleiben die Zinsen auf den ultraniedrigen Niveaus, dürfte dies nachhaltig negative Folgen für die Marktwirtschaft haben. Zudem könnte das Wirtschaftswachstum gebremst werden. Realisieren die Bürger, dass ihre Altersvorsorge wacklig wird, sparen sie noch mehr als zuvor.
Michael Ferber, Neue Zürcher Zeitung (NZZ)
Dieser Beitrag ist die überarbeitete Version eines Artikels, der am 19.9.2015 unter gleichem Titel in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen ist.