Vahan P. Roth: In einem Artikel in der NZZ hast du der Idee von Sloterdijk, dass man Steuern abschaffen und stattdessen freiwillige Geschenke an die Allgemeinheit fördern sollte, deine Zustimmung erteilt. Glaubst du tatsächlich, dass ein solches System funktionieren würde?
René Scheu: Deine erste Frage ist eine gewagte Deutung einiger Passagen meiner NZZaS-Kolumne. Aber lassen wir die Hermeneutik – ich komme zum Kern deiner Frage. Klar ist: heute, mit den heutigen Bürgern, wäre ein System, das nicht auf staatlichen Zwangsabgaben, sondern auf freiwilligen Gaben beruht, in der Tat utopisch. Für die alten Griechen hingegen war es gang und gäbe. Damals gab es keine regulären Steuern, wohl aber hohes Spendenaufkommen – jeder Bürger, der etwas auf sich hielt, wollte sich ein grösseres oder kleineres Denkmal setzen, indem er sich als Sponsor des Gemeinwesens betätigte. Was heute dessen ungeachtet erstaunlich ist, ist der Grad der mentalen Dressur. Wer per Zwang viel gibt, hat mittlerweile schon selbst das Gefühl, er gebe stets zu wenig. Das ist mentaler Etatismus in Reinkultur. Der Steuerzahler – also jener, der den Staat überhaupt erst am Laufen hält – fühlt sich als Steuerschuldner. Das ist grundfalsch. Wer viel gibt, darf stolz sein – und hat die Anerkennung all jener verdient, die von ihm profitieren, also mehr nehmen als geben. Letzter Punkt: selbstverständlich bezahlen wir viel zu viel, wobei nur die wenigsten wissen, dass die Zahl jener, die keine Bundessteuer bezahlen, stetig zunimmt. Eine Steuerquote nach dem alttestamentlichen Motto von 10 Prozent schiene mir angemessen. Wir haben heute in der Schweiz, dem angeb- lichen Steuerparadies, faktisch eine Steuerhölle, hingegen Zwangsabgabenquoten von 50 Prozent und mehr – das ist nichts Anderes als «steuerstaatlich zugreifender Semisozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage», wie sich Peter Sloterdijk treffend ausdrückt. Was mich nun wirklich erheitert, ist der Umstand, dass wir dieses System als «neoliberal» bzw. «turbokapitalistisch» bezeichnen. Historiker, die unsere Epoche einst studieren werden, werden die Welt nicht verstehen. Sie werden sich fragen – waren alle diese Leute hypnotisiert oder schlicht bekifft?
Vahan: Ich glaube, es liegt viel eher ein Begriffsirrtum vor, oder? Der herrschende „crony capitalism“ wird einfach mit Kapitalismus gleichgesetzt. An der heute existierenden Vetternwirtschaft zwischen Staat und Wirtschaft ist ja Einiges auszusetzen, auch aus liberaler Sicht. Nehmen wir zum Beispiel die Kreditbanken. Sie operieren mit dem Teilreserve-System, einem System, welches in der freien Wirtschaft wohl kaum oder wenig Verbreitung finden würde. Die Mehrheit der Wertschöpfung dieser Institutionen basiert also auf einem staatlichen Privileg, von dem Private nur träumen können (die Produktion von Geld auf Knopfdruck). Ist es daher verwunderlich, dass von «Abzocken», «Selbstbereicherung» und Ähnlichem gesprochen wird?
René: Das ist ein Begriffsirrtum – oder eine Begriffsverwirrung. Die Konzepte, die wir verwenden, um unsere Gesellschaft und Wirtschaft zu beschreiben, passen nicht mehr zu dieser Gesellschaft und zu dieser Wirtschaft. Dein Beispiel ist treffend – das Geld ist der blinde Fleck unseres Systems. Zentralbanken stellen den Geschäftsbanken Gratisgeld zur Verfügung, damit diese Staatsschulden aufkaufen, die sonst niemand freiwillig will. Dabei wissen die Geschäftsbanken: Im Extremfall retten uns die Staaten – sonst haben sie ja niemanden mehr, der ihre Schulden finanziert. Und ohne immer neue Schulden geht ja nichts mehr. Alte Schulden werden mit neuen Schulden beglichen – in der Hoffnung auf bessere Zeiten, die so aber nie kommen werden. Die Angestellten grosser Geschäftsbanken profitieren, die Sparer bezahlen die Zeche. Zu den Sparern gehören natürlich auch die Zwangssparer, also die Vorsorgebezüger. Wenn Sie begreifen würden, was ihnen widerfährt, wären sie schon lange auf die Barrikaden gestiegen. So aber geht alles seinen Lauf. Auch die ökonomische Theorie bekundet Mühe, das Wesen des Geldes zu begreifen. Und ich glaube, dass auch die Austrians hier über ihre grösste Schwäche verfügen. Die Geldschöpfung ist an sich kein Problem, sofern das neue Geld mit echtem Eigentum besichert ist. Das Problem besteht aus meiner Sicht vielmehr darin, dass die Sicherheiten mittlerweile bloss noch aus heisser Luft bestehen – nämlich aus Staatspapieren, deren Wert gegen Null tendiert. Hier liegt der wahre Skandal. Die Politiker beschwören das Vertrauen in Geld, das eigentlich kein Vertrauen mehr verdient. Eine heisse Wette auf eine luftige Zukunft.
Vahan: Ich gebe dir mehrheitlich Recht. Lass uns aber einmal an einem anderen Ort weitermachen, sonst wird das Ganze zu einem Gespräch über Geldtheorie, und dies war ja nicht der ursprüngliche Gedanke.
René: Einverstanden. Konzentrieren wir uns aufs Gewünschte – obwohl natürlich die Geldfrage Wesentliches berührt. Schiess los!
Vahan: Ein „freiwilliges Spendensystem“, wie du es beschreibst, würde wohl auch gleichzeitig die Demokratie, wie wir sie heute kennen, umkrempeln. Volksentscheide wären irrelevant, sofern man nicht auch Kapital hinter sich hätte, da die Umsetzung jeglichen staatlichen Handelns ja Geld voraussetzt. Eine Herrschaft des Kapitals. Ein zu begrüssender und gleichzeitig politisch unmöglicher Schritt in diese Richtung wäre doch die Gewichtung der Wahlstimmen basierend auf dem Steueraufkommen. Was meinst du dazu?
René: Wer auf die Idee kommen sollte, heute das Zensuswahlrecht in der Öffentlichkeit ernsthaft zu vertreten, kann gleich seine Todeserklärung unterschreiben. Und ich denke auch nicht, dass es die Probleme lösen würde – es würde jedenfalls neue schaffen, darunter ein ganz gravierendes: noch mehr soziale Unrast. Die Lösung liegt nicht auf der faktischen, sondern auf der mentalen Ebene: Jene, die Steuern zahlen, sollten dies mit Überzeugung tun; und jene, die Nettoempfänger staatlicher Transferleistungen sind, sollten die Steuerzahler mit grösstem Respekt behandeln. Und dies alles bei schwindendem Steueraufkommen, damit alle mehr netto im Portemonnaie haben, um damit zu machen, was sie möchten. Im Grunde fehlt es uns allen an Phantasie: wir können vom real existierenden Wohlfahrtsstaat nicht mehr abstrahieren. Die grosse Angst geht um: Was, wenn er nicht mehr immer und überall einspringt und hilft und umverteilt? In Wahrheit sind die Menschen heute in den wohlfahrtsstaatlichen Verwöhngesellschaften im Schnitt so reich wie nie zuvor. Die allermeisten könnten sich selbst versorgen und sich nach Wunsch versichern, ganz ohne Zwang – aber sie sind mit dem Vollsorgestaat aufgewachsen, mit dem Glauben an den anonymen Dritten, der stets zur Stelle ist, wenn er gerufen wird – und auch wenn er nicht gerufen wird. Ich denke, meine publizistische Tätigkeit hat auch den Zweck, die Phantasien zu stimulieren, die den Leuten erlauben, vom Status quo zu abstrahieren – sonst triumphiert weiterhin der konservative Geist, der sich in der Illusion wiegt, dass sich, verschliesst man nur die Augen genug, die momentane Lage bewahren liesse. Dies wäre selbstverständlich bloss dann der Fall, wenn es keine Zeit und keine Entwicklung gäbe – aber die gibt es nun einmal. Menschen in anderen Weltregionen entwickeln Ambitionen – auch wenn wir in Europa müde geworden sind, können wir andere nicht zur Müdigkeit zwingen. Es bleibt bloss die Flucht nach vorn.
Vahan: Auch wir im Hayek Club Zürich probieren, wie du es sagst, Phantasien zu wecken und Menschen Alternativen aufzuzeigen, wie es auch ohne oder mit weniger Staat funktionieren würde. Ist dies aber genug? Ich erachte es nicht als meine Pflicht, Aufklärungsarbeit zu leisten, um Dritte von den Vorteilen einer freiheitlichen Gesellschaft zu überzeugen; andererseits ist es jedoch mein Recht, nicht von Dritten (übermässig) eingeschränkt zu werden.
René: Absolut richtig. Nur nimmt, wer so spricht bzw. denkt bzw. handelt, bereits eine genuin liberale Haltung ein: Die anderen müssen nicht leben wie ich, ebenso wenig muss ich wie die anderen leben – jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden. Diese Form der gelassenen Toleranz ist jenseits der Rhetorik der herrschenden Pseudotoleranz (du bist frei, das Richtige zu tun!) das Kernstück freiheitlicher Lebensführung. Nur eben – sie funktioniert realistischerweise nur mit Leuten, die ähnlich ticken. Oder anders gefragt: was unternimmst du, wenn ein anderer dir eben seinen Lebensstil aufs Auge drücken will? Darum denke ich, dass du nicht nur im Sinne der anderen, sondern im Sinne aller (auch von dir) handelst, wenn du die Bevormunder von deiner freiheitlichen Lebensphilosophie zu überzeugen versuchst.
Vahan: In Europa sind die Konsequenzen des zivilen Ungehorsams überschaubar und nicht lebensbedrohlich. Sollten wir uns nicht vielmehr auf friedliche Art und Weise gegen den Staat wehren? Beispielsweise: die Top 10 Prozent der Steuerzahler tragen (unfreiwillig) einen Grossteil der Staatsausgaben, können aber im demokratischen Prozess nicht sinnvoll mitreden. Ein Abwandern dieser Personen würde den Staat in den Kollaps führen. Wieso weist man nicht offensiv auf diesen Tatbestand hin, um durch eine Lobby-Gruppe die Politik zu lenken?
René: Ich denke, dies geschieht bereits. Viele wohlhabende Franzosen, ob Patrioten oder nicht, haben Frankreich längst den Rücken gekehrt. In der Schweiz dürften ähnliche Gedanken oder Entscheidungen im Hintergrund kursieren – nur ist hier der Leidensdruck noch geringer als in Frankreich. Wer allerdings Lobbying oder Politik mit dem Mittel der Drohung praktiziert, hat in der Schweiz nur wenig Aussicht auf Erfolg. Viele Schweizer sind aufmüpfig; setzt man ihnen das Messer auf die Brust, lieben sie es, gegen die ureigenen Interessen zu entscheiden. Es scheint mir wichtig, in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Punkt hinzuweisen: Kapital ist bereits weltweit mobil. Die Superwohlhabenden haben ihr Vermögen – und damit auch die Risiken – längst diversifiziert. Die Vertreter des oberen Mittelstands sind hingegen weniger mobil. Am Ende sind sie es, die zur Kasse gebeten werden. Die Nettoempfänger staatlicher Transferleistungen können bloss darauf spekulieren, dass diese nicht unter den Lasten zusammenbrechen bzw. Leistungsverweigerung betreiben. Da sie aber zu den Leistern zählen, werden sie alles tun, um nicht zu scheitern. Und die Empfänger werden raunen: seht ihr, liebe Leute, es funktioniert ja alles wunderbar, und wir können noch ein wenig mehr umverteilen!
Vahan: Wie du richtig festhältst, müssen wir als Bürger, statt zur Wahlurne zu gehen, vermehrt mit den „Füssen abstimmen“. Einige Schweizer Unternehmer haben dies bereits getan, weitere werden folgen. Auch ich habe den europäischen Kontinent (die Schweiz) verlassen. Ich bin kein „Top-Verdiener“ und wäre aufgrund der Tatsache, dass ich ein junger Familienvater mit zwei Kindern bin, wohl zumindest in den nächsten Jahren „Profiteur“ des Schweizerischen Wohlfahrtstaates gewesen. Wieso blieb ich nicht? Die Denkweise der „Neidgenossen“ ist schlicht nicht kompatibel mit meiner Weltsicht. Ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, in der institutionalisierter Raub unter dem Deckmantel demokratischer Legitimation betrieben wird. Ausserdem haben Europäer und leider auch die Schweizer aufgrund des Sozialstaates ihren Leistungswillen verloren und denken nur noch in Ansprüchen. Die Europäer müssen wieder lernen, was Leben heisst: nämlich immer auch überleben, wenn es nicht Leben auf Kosten anderer sein soll. Überleben heisst, keinen Anspruch zu haben gegenüber Dritten (ausser in Ruhe gelassen zu werden) und durch eigene Anstrengung über die Runde zu kommen (egal was für ein tiefer Lebensstandard resultiert). Gekoppelt mit der demographischen Entwicklung wird dieser fehlende Leistungswille den Untergang Europas bedeuten. Ich glaube, wir haben in Europa den „point of no return“ überschritten.
René: Deine Analyse ist richtig, doch würde ich ihr in dieser strengen, eindimensionalen Logik nicht zustimmen. Den Grund für meinen Vorbehalt haben wir bereits angesprochen: Phantasie, in diesem Fall: Mangel an Phantasie. Die Geschichte von Menschen und Gesellschaften ist nicht Schicksal, sie lässt sich nicht extrapolieren, also auch nicht vorhersagen – höchstens im Rückblick scheint immer alles schon klar gewesen zu sein. Kurzum, uns fehlt die Phantasie, uns vorzustellen, wie selbst satturierte Mitteleuropäer reagieren, wenn sie wirklich begreifen, dass das sorglose Leben an sein Ende kommt. Der Mensch ist lernfähig, das Traurige daran ist bloss, dass er oftmals die Brutalität des Realen spüren muss, bis er einlenkt. Darum habe ich mir trotz aller berechtigter Düsternis einen Grundoptimismus bewahrt. Ich will auch, dass meine Kinder in einem anspornenden Umfeld aufwachsen, in dem Freiwilligkeit und Stolz – statt Zwang und Jammern – zu den Tugenden zählen. Das heisst natürlich nicht, dass ich nicht mindestens einen Plan B in der Hinterhand hätte. Es ist die Trumpfkarte, die ich im Falle aller Fälle jederzeit ausspielen kann. Bis auf Weiteres glaube ich daran, dass ich sie niemals auszuspielen brauche.
Vahan: „Not macht erfinderisch“, so lautet deine Kernaussage; dies gilt allerdings auch für den Staat, der im eigenen Überlebenskampf zumindest zeitweise unerträgliche Züge annehmen wird. Aber ich gebe ich dir grundsätzlich Recht. Eines Tages wird es notgedrungen für den europäischen Kontinent wieder aufwärtsgehen. Mit einem aussreichend langen Zeithorizont ist vieles möglich, unsere Zeit hier auf Erden ist jedoch begrenzt. Der Verbleib in Europa in der Hoffnung auf eine langfristige Besserung scheint mir aus dieser Überlegung eine nicht besonders sinnvolle Allokation der Lebenszeit zu sein, vor allem da die Möglichkeit eines Zuzugs weiterhin besteht, sofern sich die Lage ändert.
René: Das wäre dann das Pech jener, die in die reichste Zeit hineingeboren wurden, die eben zugleich auch die frivolste war. Ich schliesse nicht aus, dass ich zu ihnen gehöre, auch wenn ich ihre Frivolität nicht teile. Dabei ist mir klar: Zumeist verpasst man den richtigen Moment zum Absprung. Man ist entweder zu früh oder zu spät dran, nur selten rechtzeitig. Du folgerst daraus: dann lieber zu früh. Ich sage: lieber nichts überstürzen. Das mag mit einem Defekt des Philosophen zusammenhängen: der Freude am Begreifen. Es macht mir grossen Spass, die herrschende Lage zu analysieren – und mit dem Skalpell des Begriffs zu sezieren, frei nach Hegel: „Philosophie ist die eigene Zeit in Gedanken erfasst“. Diese Zeit möchte ich einmal meiner Tochter erklären, wenn sie verständnislos auf die Zeit zurückblickt, als die grosse Sorglosigkeit herrschte, die nichts Anderes als unverstandener Zynismus war. Wie lange der Spass andauert – wir werden sehen.
Vahan: Lieber René, ich danke dir für das interessante Interview.
René Scheu, Herausgeber Schweizer Monat, & Vahan P. Roth, Vorstandsmitglied Hayek Club Zürich
René Scheu wurde von Philipp Baer fotografiert.