Der Neoliberalismus verspreche mehr, als er halten könne, meinen drei IWF-Ökonomen. Sie wussten es schon immer und jetzt merke es auch der turbokapitalistische IWF, meint die Linke. Nicht so schnell, meint der Autor dieses Beitrages.
Es war wieder einmal eine Geschichte, wie sie sich ein sozialdemokratischer Politredakteur im Angesicht des Sommerlochs nur wünschen konnte: Drei IWF-Ökonomen veröffentlichten in der Juni-Ausgabe des hauseigenen Magazins «Finance & Development» einen Artikel mit dem Titel «Neoliberalism: Oversold?», in dem sie eine «knallharte Abrechnung mit dem Neoliberalismus» vornahmen – so zumindest der O-Ton, der durch den Blätterwald posaunt wurde. Sogar der IWF als Zentrums des neoliberalen Hohepriestertums wende sich nun von dieser Irrlehre ab, kommentierten diejenigen, die es natürlich schon immer gewusst hatten, und sie feierten leitartikelnd ihren historischen Sieg.
Statt zu feiern, hätten die Leitartikler aber lieber den IWF-Aufsatz im Original gelesen. Dieser ist nämlich weit differenzierter, als es das Frohlocken in den Feuilletons vermuten liesse. Es gebe an der neoliberalen Agenda «viel zu bejubeln», halten die Ökonomen so beispielsweise fest, insbesondere Freihandel, Privatisierungen und internationale Direktinvestitionen. Dieser Jubel scheint den meisten neuen IWF-Fans, die der Welt die Läuterung ihres Erzfeinds verkündeten, im Hals stecken geblieben zu sein. Dennoch: Die Autoren des Artikels nennen in der Tat drei Beispiele, wo neoliberale Politikvorschläge nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht hätten und überdacht werden müssten. Es sind dies gewisse Auswüchse des internationalen Kapitalverkehrs, die Austeritätspolitik und materielle Ungleichheit. Bei einer genaueren Betrachtung bietet jedoch keines dieser Phänomene eine Grundlage, den Neoliberalismus zu verurteilen, im Gegenteil.
Kapitalverkehrskontrollen: Verzerrte Papers, verzerrte Märkte
In einem ersten Kritikpunkt halten die IWF-Ökonomen zwar durchaus fest, dass internationale Direktinvestitionen eine eigentliche Erfolgsgeschichte seien. Andere Formen des internationalen Kapitalverkehrs, insbesondere Kreditvergaben, seien hingegen nur für entwickelte Volkswirtschaften förderlich. In aufstrebenden Volkswirtschaften erhöhe solcher Kapitalzufluss jedoch nur die Wahrscheinlichkeit von Krisen. Das Ziel, Risiken besser international abzustützen, erreiche er hingegen nicht. Der Kapitalzufluss müsse also möglicherweise mit Kapitalverkehrskontrollen beschränkt werden.
Die Aussage des Papers, auf das sich der Artikel für diese Empfehlung stützt, wurde so aber arg verzerrt: Dieses hält nämlich fest, dass diese Probleme in Entwicklungsländern gerade so gut von mangelnder Integration dieser Länder in globale Finanzmärkte herrühren könnten. Verschiedene Faktoren könnten ein Land ausserdem robuster bei hohem Kapitalzufluss machen: Gute Institutionen, ein entwickeltes Finanzsystem, offene Handelspolitik und saubere Wirtschaftspolitik gehören dazu. Das sind auch genau jene Faktoren, die als Resultate einer stärkeren internationalen Finanzmarkt-Verflechtung entstünden, wie die Quelle festhält. Anders gesagt: hoher Kapitalzufluss selbst macht ein Land robuster gegenüber seinen eigenen Gefahren. Im Gegensatz dazu seien Kapitalverkehrskontrollen teuer und verzerrend. Wollte man keinen Artikel schreiben, der in der Tagespresse Erwähnung finden will, so müsste man vor dieser Faktenlage eigentlich zum Schluss kommen, dass neoliberale Rezepte hier nicht das Problem, sondern die Lösung sind.
Austerität: Bestätigung des Liberalismus
In einem zweiten Punkt kritisieren die IWF-Autoren die sogenannte Austeritätspolitik, also politische Massnahmen zur Konsolidierung eines Staatshaushalts. Doch kritisieren sie dabei nicht etwa die Austeritätspolitik in Südeuropa, die in der Öffentlichkeit am stärksten verurteilt wird: Diese Länder hätten «kaum eine andere Wahl». Stabile Volkswirtschaften könnten es mit dem Schuldenabbau hingegen etwas gelassener angehen.
Nichtsdestotrotz sahen Austeritätsgegner in dieser Aussage ihr jahrelang sorgfältig aufgebautes Narrativ bestätigt, dass die Austeritätspolitik – darunter verstehen sie hauptsächlich neoliberal inspiriertes Zurückfahren der Staatsausgaben – über Nachfrageschocks die betreffenden Volkswirtschaften in Krisen gestürzt habe. Dieses Narrativ hält aber den Fakten nicht Stand: Irland, das seine Staatsquote von 2011 bis 2015 um mehr als 10 Prozentpunkte gesenkt hat, ist bereits aus seiner Krise herausgewachsen. Griechenland dagegen, dessen Staatsquote im selben Zeitraum gar um 1 Prozentpunkt stieg, kämpft bekannterweise immer noch mit wirtschaftlichen Problemen.
Doch damit nicht genug: die an verschiedenen Orten implementierten Austeritätsprogramme bestanden natürlich nicht nur aus Ausgabensenkungen, sondern auch zu einem guten Teil aus Steuererhöhungen. Der Harvard-Ökonom Alberto Alesina versuchte in einer Untersuchung all dieser Programme herauszufiltern, welche Massnahmen genau den wirtschaftlichen Schaden angerichtet hätten. Sein Ergebnis: Während Ausgabensenkungen nicht signifikant zum Schrumpfen der Wirtschaft beigetragen hätten, war das bei den Steuererhöhungen sehr wohl der Fall. Die Lehre aus der Austeritätspolitik also: Steuererhöhungen sind schlecht für Wohlstand und Wachstum. Ist das eine «knallharte Widerlegung neoliberaler Glaubenssätze»?
Nicht Ungleichheit, aber Armut ist das Problem
Das letzte Argument der IWF-Ökonomen lautet folgendermassen: Da neoliberale Rezepte wie Finanzmarktliberalisierung und Austerität zu Ungleichheit führen und Ungleichheit schlecht sei für Wirtschaftswachstum, könne sich eine neoliberale Agenda negativ auf das Wohlstandswachstum auswirken. Wie bereits erwähnt, ist der erste Teil des Arguments zweifelhaft, denn Finanzmarktliberalisierung ist eher die Lösung als das Problem und das Versagen der Austeritätspolitik ist eher eine Bestätigung der «neoliberalen Agenda» als ihre Widerlegung.
Der zweite Schritt des Arguments, dass Ungleichheit sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirke, ist nicht weniger zweifelhaft. Tatsächlich lässt sich in wenig entwickelten Ländern ein negativer Effekt von Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum feststellen. In entwickelten Volkswirtschaften ist der Wachstumseffekt von Ungleichheit hingegen neutral oder sogar leicht positiv. Das lässt eher darauf schliessen, dass absolute Armut, nicht Ungleichheit, schädlich ist; immerhin besteht in Entwicklungsländern ein stärkerer Zusammenhang zwischen Armut und Ungleichheit. Eine letztjährige OECD-Studie, die ins gleiche Horn stiess wie die IWF-Ökonomen, sinnierte auch, der schädliche Einfluss von Ungleichheit wirke über Entbehrungen der Armen, die wenig Bildungs- und Gesundheitsinvestitionen tätigen könnten. Auch das ist genau genommen eine Auswirkung von absoluter Armut, nicht von Ungleichheit per se.
Ausserdem: gerade wirtschaftliche Freiheit – oder wie der IWF wohl schreiben würde: die «neoliberale Agenda» – ist das beste Mittel zur Beseitigung dieser Armut. Das Einkommen von Menschen ist im Viertel der wirtschaftlich freiesten Staaten durchschnittlich 6-mal höher als im Viertel der wirtschaftlich unfreiesten Staaten. Für die untersten zehn Prozent der Einkommensverteilung liegt dieser Faktor sogar noch deutlich höher, nämlich bei 8.5. Das belegt: Die Armen gehören bei mehr wirtschaftlicher Freiheit zu den grossen Gewinnern. Gerade sie werden nämlich von unsicheren Eigentumsrechten, Behördenwillkür und Regulierungen besonders hart getroffen. Laut Schätzungen der Weltbank entgeht den Ärmsten der Welt gerade durch mangelnde wirtschaftliche Freiheit ein Einkommenszuwachs von 2.2 Prozent jährlich.
Ungleichheit, die gemessen am globalen Gini-Index notabene seit der Jahrtausendwende sinkt, ist also nicht per se problematisch. Armut ist es, doch diese wird von liberaler Wirtschaftspolitik erfolgreich bekämpft: Parallel zur Ausdehnung der globalen Marktwirtschaft ist der Anteil der Menschen in extremer Armut an der Weltbevölkerung von 44% im Jahr 1980 auf unter 10% in diesem Jahr gesunken.
Liberalismus ist mehr als Neoliberalismus
Freilich gibt es gerade aus liberaler Sicht am Konzept des «Neoliberalismus» manches zu kritisieren, wie etwa seine etwas naive Sichtweise auf die Möglichkeiten staatlicher Wettbewerbspolitik oder seine spröde Reduktion des Werts der Freiheit auf volkswirtschaftliche Aggregate. Liberalismus muss mit Emotion und Enthusiasmus vertreten werden. Dass dies möglich ist, beweist die amerikanische Gelehrte Deirdre McCloskey in ihrer grossartigen Buchreihe zum «Great Enrichment»: In drei eindringlichen Bändern legt sie dar, wie der Liberalismus zu Beginn der Industrialisierung eine fundamentale Verschiebung im gesellschaftlichen Wertegefüge antrieb – und wie dieser Wertewandel triste Subsistenzgesellschaften innert zwei Jahrhunderten in ungemein wohlhabende und faire Bürgergesellschaften verwandelte. Dieses historische Verdienst kann auch ein IWF-Aufsatz nicht aus der Welt schaffen, der mit plakativ zugespitzten Halbwahrheiten an Finessen liberaler Reformen herumnörgelt. Die IWF-Ökonomen fordern, der IWF müsse sich leiten lassen von dem, «was funktioniert». Nur zu, tut das, und befreit die Menschen von ihren Fesseln!
Simon Scherrer, Präsident von up!schweiz