Freie Einwanderung sei eine feine Sache, aber in einem Land mit Sozialstaat leider nicht möglich. Der Zustrom von neuen Sozialleistungsbezügern in grosser Zahl halse den Nettozahlern grosse Bürden auf, was man als Liberaler nicht vertreten könne. So oder ähnlich pflegen sich viele Liberale gegen freie Einwanderung auszusprechen, häufig noch ergänzt mit dem Verweis, dass auch der grosse Liberale Milton Friedman sich so geäussert habe. Leider machen sie es sich damit zu einfach.
Die allermeisten Liberalen dieser Welt sind zu Recht glühende Verfechter von Freihandel. Güter und Dienstleistungen sollen Grenzen frei überqueren dürfen. Wollen zwei Menschen aus unterschiedlichen Staatsgebieten miteinander Handel treiben, wäre es nicht nur schädlich, ihnen das zu untersagen, sondern griffe auch unzulässig in ihre individuelle Freiheit ein. Umstritten wird die Sache plötzlich, wenn dieser grenzüberschreitende Handel darin besteht, einem Menschen von jenseits der Landesgrenze eine Wohnung zu vermieten oder einen Arbeitsplatz zu verschaffen. Denn nichts anderes als dieser Spezialfall von Freihandel ist letztlich die Einwanderung, mit der einige Liberale Probleme bekunden.
Mehr Zuwanderer, mehr Zwangsabgaben
Das Besondere an diesem Spezialfall, so merken liberale Einwanderungsgegner an, bestehe darin, dass in der Ära der Wohlfahrtsstaaten ein Zuzug gleichbedeutend sei mit einer potentiellen Zusatzbelastung der staatlichen Zwangsumverteilungssysteme. Damit bürde Einwanderung der Allgemeinheit zusätzliche Zwangsabgaben auf, was aus liberaler Sicht ebenfalls abzulehnen sei. Solange es also nur ein Fitzelchen Sozialstaat in einem Land gebe, dürfe, ja müsse dieses Land zum Schutz seiner Steuerzahler eine restriktive Einwanderungspolitik anwenden.
Proponenten dieses Arguments stützen sich dabei nicht selten auf Milton Friedman, der häufig betonte, dass freie Zuwanderung zu Arbeitsplätzen begrüssenswert, aber freie Zuwanderung in den Sozialstaat abzulehnen sei. Verfechter restriktiver Migrationspolitik sind jedoch zu voreilig, wenn sie Friedman die Aussage zuschreiben, dass in einem Land mit Sozialstaat keine Form von freier Zuwanderung möglich sei. 1984 merkte Friedman in einer Umfrage nämlich an, dass legale und illegale Immigration einen «sehr positiven Einfluss» haben, sowohl für die Zugewanderten als auch für die Ansässigen. Dabei war ihm die illegale Einwanderung sogar noch lieber: Illegale Immigranten qualifizierten sich nämlich nicht für Sozialleistungen auf Kosten anderer.
Auf die Technik kommt es an
Friedmans Punkt war also nicht, dass in einem Wohlfahrtsstaat keine Form von freier Zuwanderung möglich sei, sondern dass Zuwanderungspolitik mit dem Sozialstaat kompatibel ausgestaltet werden müsse und könne. Mit der Welfare Refom von 1996 wurden in den USA beispielsweise Zuwanderer während der ersten fünf Jahre von einer Vielzahl von Umverteilungsprogrammen ausgeschlossen. Die Armut unter Zugewanderten stieg dadurch nicht, im Gegenteil: Die Reduktion in Transferzahlungen löste eine schnellere Arbeitsmarktintegration und den schnelleren Erwerb von Sprachkenntnissen aus[1]. Interessant, wenn auch nicht erstaunlich, dass nach besagter Reform die öffentliche Akzeptanz von Zuwanderung in den USA wesentlich zunahm: Es nagt an der Popularität von Zuwanderung, wenn die Einheimischen das Gefühl haben, für sie bezahlen zu müssen.
Doch ein kleiner Wohlfahrtsstaat erhöht nicht nur die Beliebtheit von Zuwanderung, Zuwanderung senkt – aus liberaler Sicht erfreulich – auch die Beliebtheit grossangelegter Umverteilungsprogramme: Je heterogener eine Gesellschaft ist (oder durch Zuwanderung wird), desto geringer ist die Unterstützung für gesamtgesellschaftliche Umverteilungsübungen. Angehörige einer Gruppe haben dann nämlich eher die Angst, dass ihre Beiträge einer anderen Gruppe zugutekommen könnten. So ging es in der heterogenen USA auch wesentlich länger als im ursprünglich sehr homogenen Skandinavien, bis sich sozialstaatliche Elemente etablierten. Es ist also keineswegs ein Naturgesetz, dass freie Zuwanderung zu einer Aufblähung des Sozialstaats führt. Ob und wie stark das geschieht, hängt wesentlich von den eingesetzten Politikinstrumenten ab.
Fettiges Essen verbieten?
In der Praxis muss Zuwanderung also keineswegs zu stärkeren Eingriffen ins Eigentum aufgrund höherer Sozialstaatslasten führen. Doch in der Theorie ist darüber hinaus eine andere Frage interessant: Darf der Staat die Freiheit von Menschen überhaupt vorbeugend beschneiden, weil sie sonst Dinge tun würden, die eventuell Zwangstransferzahlungen von anderen Menschen auslösen? Konkret: selbst wenn Zuwanderer die Sozialsysteme belasten, reicht das, um Zuwanderung an sich zurückzubinden?
In Zeiten des allumfassenden Wohlfahrtsstaats hat aber fast jede Handlung zur Folge, dass andere Menschen für sie bezahlen müssen. Sollte man auch fettiges Essen verbieten, weil dessen Konsumenten über das staatliche Gesundheitssystem der Allgemeinheit zur Last fallen? Sollte man eine Obergrenze für die Anzahl Kinder pro Ehepaar einführen, weil die Allgemeinheit Kinder über Kinderzulagen und Schulfinanzierung bezahlen muss? Wie viele Menschen würden behaupten, dass freie Fortpflanzung zwar eine feine Sache, aber in einem Sozialstaat leider nicht möglich sei? Ganz offensichtlich liefert es Legitimation für die extremsten Freiheitseingriffe, wenn die potentielle Belastung der Allgemeinheit (via Sozialstaat) als ausreichend erachtet wird, um eine Handlung zu verbieten. Aus liberaler Sicht kann das darum kein Kriterium sein.
Ausserdem: wer (zu Recht) beklagt, dass für Zuwanderung in den Sozialstaat jemand bezahlen muss, lässt häufig ausser Acht, dass für Zuwanderungsbeschränkungen erst recht jemand bezahlen muss. Die Zuwanderungswilligen werden so mittels staatlichen Zwangs um den Einkommenszuwachs gebracht, den sie im Zielland hätten erzielen können.
Freiheit und Eigentum – nicht nur für Einheimische!
Liberale, die Freiheit und Eigentum eines jeden Menschen ernst nehmen, haben darum zwar Recht, wenn sie sich gegen Einwanderung in den Sozialstaat wehren. Sie nehmen diese Motivation jedoch nicht ernst genug, wenn sie sich nicht mit der gleichen Vehemenz auch gegen Zuwanderungsbeschränkungen aussprechen.
Freie Migration hat das Potenzial, die Welt doppelt so reich zu machen[2]. Sie hat das Potenzial, die 75% der globalen Ungleichheit einzuebnen, die heute allein aufgrund von Migrationshürden bestehen[3]. Und sie hat das Potenzial, die schlimmsten Regime unseres Planeten unter Druck zu setzen, wenn deren Bürger einfach abwandern können, und damit die Ursache für grosse Migrationswellen selbst ausmerzen. Alles Verbesserungen, die alleine dadurch geschähen, dass man Menschen ihre natürliche Freiheit liesse. Wer, wenn nicht Liberale, müsste eine solche Idee vertreten? Freie Zuwanderung ist definitiv zu wichtig, um sie wegen Pseudo-Argumenten à la «Milton Friedman hats gesagt!» auf die lange Bank zu schieben.
[1] Alex Nowrasteh, Do Refugees Need Welfare? Or Do They Need To Escape?, Foundation for Economic Education, https://bit.ly/1J9Qi4m
[2] Michael Clemens, Economics and Emigration – Trillion-Dollar Bills on the Sidewalk?, Center for Global Development, https://bit.ly/1a0dyyb
[3] Branko Milanovic, Global Income Inequality by the Numbers: in History and Now, World Bank, https://bit.ly/1fzgyu5
Simon Scherrer, Co-Präsident up!schweiz