Der grosse Ökonom Ludwig von Mises machte sich angesichts grosser Wanderungsbewegungen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Gedanken zum Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Migrationspolitik und liberaler Weltanschauung. Viele seiner Ausführungen erinnern an die heutige Debatte zum Thema. Wie bereits zu Mises’ Zeiten steht heute wiederum die zivilisatorische Leistung unserer Gesellschaft als solche auf dem Spiel.
Auszug zum Thema „Freizügigkeit“
Man hat dem Liberalismus mitunter vorgeworfen, daß sein Programm vorwiegend negativ sei. Das Wesen der Freiheit bedinge dies schon, da Freiheit nur als Freiheit von irgendetwas gedacht werden könne und die Freiheitsforderung in der Abwehr irgendwelcher Ansprüche bestehe. Dagegen meinte man, sei das Programm der Autoritätsparteien positiv. Da in den Ausdrücken negativ und positiv in der Regel eine ganz bestimmte Wertbetonung mitschwingt, lag in dieser Charakteristik der Versuch, das politische Programm des Liberalismus durch Erschleichung zu diskreditieren.
Es braucht hier nicht noch einmal wiederholt zu werden, daß das Programm des Liberalismus – ein auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln aufgebautes Gemeinwesen – nicht weniger positiv ist als jedes andere denkbare politische Programm. Was am Programm des Liberalismus negativ ist, das ist die Verneinung, die Ablehnung, die Bekämpfung aller jener Zustände, die mit diesem positiven Programm in Widerspruch stehen. In dieser Abwehrtätigkeit ist das Programm des Liberalismus – übrigens wie das jeder Richtung – abhängig von der Stellung, die die Gegner zu seinem Programm einnehmen. Wo der Widerstand der Gegner am stärksten ist, dort muß auch der Ansturm des Liberalismus am stärksten sein, wo er schwächer ist oder gar ganz fehlt, genügt unter Umständen ein kurzes Wort. Und da der Widerstand, der dem Liberalismus entgegentrat, im Laufe der geschichtlichen Entwicklung gewechselt hat, ist auch der Abwehrteil des liberalen Programms manchem Wechsel unterworfen gewesen.
Das tritt am deutlichsten zutage bei der Freizügigkeit. Wenn der Liberalismus für jeden Menschen das Recht fordert, sich dort aufzuhalten, wo er es wünscht, so ist auch das keine „negative“ Forderung. Es gehört mit zum Wesen der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln aufgebauten Gesellschaft, daß jeder dort arbeiten und dort verzehren darf, wo es ihm am besten dünkt. Negativ wird dieses Postulat erst dort, wo es den auf die Beschränkung der Freizügigkeit arbeitenden Kräften gegenübertritt. In diesem negativen Teil hat das Freizügigkeitsrecht im Laufe der Zeiten einen vollkommenen Wandel durchgemacht. Als der Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert aufkam, hatte er für die Freiheit der Auswanderung zu kämpfen; heute geht der Kampf um die Freiheit der Zuwanderung. Damals mußte er gegen die Gesetze auftreten, die den Bewohner des flachen Landes verhinderten, in die Stadt zu ziehen, und die dem Manne, der sein Vaterland verlassen wollte, um sich in der Fremde ein besseres Schicksal zu zimmern, strenge Strafen in Aussicht stellten. Die Zuwanderung aber konnte sich damals im Allgemeinen frei und ungehemmt vollziehen.
Heute ist das bekanntlich anders. Es fing vor einigen Jahrzehnten mit Gesetzen gegen die Einwanderung von Kulis und Chinesen an. Heute bestehen in allen Staaten der Welt, in die Einwanderung lockend erscheinen könnte, mehr oder weniger strenge Gesetze, die entweder die Einwanderung ganz verhindern oder doch sehr stark einschränken. Die auf Beschränkung der Einwanderung gerichtete Politik ist unter doppeltem Gesichtspunkt zu betrachten: einmal als Politik der Gewerkschaften, dann als nationale Schutzpolitik.
Die Gewerkschaften können den Arbeitsmarkt – wenn wir hier von den Gewaltmitteln der Zwangsorganisation aller Arbeiter, des obligatorischen Streikes und der gewaltsamen Behinderung der Arbeitswilligen absehen – nur dadurch in ihrem Sinne beeinflussen, daß sie das Angebot an Arbeitskräften beschränken. Da es nun aber den Gewerkschaften nicht möglich ist, die Zahl der auf der Welt lebenden Arbeiter herabzumindern, so bleibt ihnen nur die Möglichkeit, in einem Industriezweig oder in einem Land auf Kosten der in anderen Industriezweigen tätigen oder in anderen Ländern lebenden Arbeiter die Zahl der Arbeiter durch Sperrung des Zuzuges herabzusetzen. Die Absperrung eines Industriezweiges gegen die übrigen im Lande lebenden Arbeiter ist aus praktischen politischen Gründen nur in einem beschränkten Umfange möglich. Dagegen ist die Absperrung gegen das Ausland politisch unschwer durchzuführen.
Die natürlichen Produktionsbedingungen und damit auch die Produktivität der Arbeit und sohin der Lohn sind in den Vereinigten Staaten günstiger als in großen Teilen Europas. Bestünde Freizügigkeit, dann würden europäische Arbeiter in großer Zahl nach den Vereinigten Staaten auswandern, um dort Arbeit zu suchen. Das wird durch die amerikanischen Einwanderungsgesetze außerordentlich erschwert. Damit wird in den Vereinigten Staaten der Arbeitslohn über dem Niveau erhalten, das er bei völliger Freiheit der Wanderung annehmen würde, in Europa aber unter dieses Niveau herabgedrückt. Auf der einen Seite gewinnt der amerikanische Arbeiter, auf der anderen Seite verliert der europäische Arbeiter.
Doch es wäre verfehlt, die Wirkungen der Freizügigkeitsbeschränkung nur vom Gesichtspunkt der unmittelbaren Wirkung auf den Arbeitslohn zu betrachten. Sie gehen weiter. Durch das relative Überangebot von Arbeitskraft in Gebieten mit weniger günstigen Produktionsverhältnissen und den relativen Mangel an Arbeitern in Gebieten mit verhältnismäßig günstigeren Produktionsverhältnissen wird in jenen die Produktion weiter ausgedehnt, in diesen mehr eingeschränkt als es bei voller Freizügigkeit der Fall wäre. Die Wirkungen der Beschränkung der Wanderungsfreiheit sind also ganz dieselben wie die eines Schutzzolles. Sie führen dazu, daß in einem Teil der Welt günstigere Produktionsgelegenheiten nicht ausgenützt werden und in einem anderen Teil der Welt weniger günstige Produktionsgelegenheiten ausgebeutet werden. Vom Standpunkt der Menschheit gesehen: Verringerung der Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit, Verminderung des der Menschheit zur Verfügung stehenden Güterreichtums.
Die Versuche, die Politik der Einwanderungsbeschränkungen vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu rechtfertigen, sind also von vornherein ganz aussichtslos. Die Einwanderungsbeschränkungen verringern, darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen, die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit. Wenn die Gewerkschaften der Vereinigten Staaten oder Australiens die Einwanderung behindern, so kämpfen sie nicht nur gegen die Interessen der Arbeiter der übrigen Länder der Erde, sondern auch gegen die Interessen aller übrigen Menschen, um sich einen Sondervorteil herauszuschlagen. Dabei bleibt es noch durchaus ungewiß, ob nicht die Steigerung der allgemeinen Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit, die durch die Herstellung der vollen Freizügigkeit bewirkt würden könnte, so groß wäre, daß sie auch für die Mitglieder der amerikanischen und australischen Gewerkschaften die Einbuße, die sie durch die Zuwanderung der fremden Arbeiter erfahren könnten, vollkommen wettmachen müßte.
Die Arbeiter der Vereinigten Staaten und Australiens könnten die Einwanderung nicht beschränken, wenn ihnen nicht noch ein anderes Argument zur Begründung ihres Tuns zur Verfügung stünde. Noch immer ist heute die Macht gewisser liberaler Grundsätze und Ideen so groß, daß man sie nicht zu bekämpfen vermag, wenn man nicht über das Interesse an Erzielung höchster Ergiebigkeit der Produktion ein vermeintliches höheres und wichtigeres Interesse zu stellen hat. Wir haben schon gesehen, wie der Schutzzoll mit nationalen Motiven gerechtfertigt wird. Nationale Interessen sind es auch, die zugunsten der Einwanderungsbeschränkungen geltend gemacht werden.
Wird die Einwanderung vollkommen freigegeben, dann werden sich von Europas übervölkerten Gebieten die Einwanderer in dichten Scharen nach Australien und Amerika ergießen. Sie werden so zahlreich kommen, daß mit ihrer nationalen Assimilation nicht mehr zu rechnen sein wird. Wenn früher die Einwanderer in den Vereinigten Staaten bald die englische Sprache und die amerikanischen Sitten und Gebräuche angenommen haben, so war dies zum Teil darauf zurückzuführen, daß sie nicht in so großer Zahl auf einmal hinüberkamen. Die kleinen Gruppen von Einwanderern, die sich über das weite Land verteilten, lösten sich schneller in dem großen amerikanischen Volkskörper auf, der einzelne Einwanderer war schon halb assimiliert, wenn die nächsten Einwanderer Amerikas Boden betraten. Eine der wichtigsten Voraussetzungen der nationalen Assimilation war die, daß die fremdnationalen Einwanderer nicht zu zahlreich kamen. Das werde sich jetzt ändern, meint man, und es bestehe die Gefahr, daß die Vorherrschaft oder richtiger gesagt Alleinherrschaft der angelsächsischen Nationalität in den Vereinigten Staaten gebrochen werde. Ganz besonders befürchtet man dies von einer starken Einwanderung asiatisch-mongolischer Elemente.
Diese Befürchtungen mögen für die Vereinigten Staaten vielleicht übertrieben sein. Für Australien sind sie es sicher nicht. Australien hat ungefähr die Einwohnerzahl Österreichs. Sein Flächenraum aber ist hundertmal so groß wie der Österreichs, und seine natürlichen Hilfsquellen sicherlich unvergleichlich reicher als die Österreichs. Würde man die Einwanderung nach Australien freigeben, dann ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß Australiens Bevölkerung in wenigen Jahren in der Mehrzahl aus Japanern, Chinesen, Malayen und Kulis bestehen wird.
Die Abneigung, die die Mehrzahl der Menschen der Welt heute gegen den Angehörigen fremder Nationen und besonders noch gegen solche fremder Menschenrassen empfindet, ist so groß, daß man es ohne weiteres verstehen kann, daß sie sich dem Gedanken friedlichen Ausgleichs solcher Gegensätze widersetzen. Es ist kaum anzunehmen, daß die Australier die Einwanderung nicht der englischen Nation angehöriger Europäer freiwillig gestatten werden, und es ist ganz ausgeschlossen, daß sie auch den Asiaten gestatten sollten, Arbeit und Niederlassung in ihrem Erdteil zu suchen. Die Australier englischer Abkunft stehen auf dem Standpunkt, daß der Umstand, daß die Besiedlung dieses Landes zuerst durch Engländer erfolgte, für ewige Zeiten der englischen Nation ein Vorrecht auf den ausschließlichen Besitz dieses ganzen Erdteiles gibt. Die Angehörigen der anderen Völker der Welt aber wollen den Australiern allen Besitz, den sie in Australien nutzen, nicht im geringsten streitig machen. Sie meinen nur, daß es unbillig sei, daß die Australier es nicht gestatten, günstigere Produktionsbedingungen in Australien, die heute brach liegen, auszunützen, und sie zwingen, ungünstigere Produktionsbedingungen in ihrer Heimat zu bearbeiten.
Der Stand dieser für das Schicksal der Welt wichtigsten Streitfrage, von deren befriedigender Lösung Sein oder Nichtsein der Zivilisation abhängt, ist also der: auf der einen Seite stehen Dutzende, ja Hunderte von Millionen Europäer und Asiaten, die gezwungen sind, unter ungünstigeren Produktionsbedingungen zu arbeiten, als es jene sind, die sie in den verschlossenen Gebieten finden können. Sie verlangen Öffnung der Grenzen des verbotenen Paradieses, weil sie sich davon Erhöhung der Ergiebigkeit ihrer Arbeit und damit höheren Wohlstand versprechen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die so glücklich sind, das Land mit den günstigeren Produktionsbedingungen bereits ihr eigen zu nennen. Sie wollen – soweit sie Arbeiter und nicht Besitzer von Produktionsmitteln sind – den höheren Lohn, den ihnen diese Stellung gewährleistet, nicht fahren lassen. Einmütig aber fürchtet die ganze Nation die Überflutung durch die Fremden. Sie fürchtet, daß sie einmal in ihrem Lande in die Minderzahl gedrängt werden könnte, und daß sie dann alle jene Schrecken der nationalen Verfolgung erdulden müßte, denen z.B. heute die Deutschen in der tschechoslowakischen Republik, in Italien, in Polen ausgesetzt sind.
Man kann nicht bestreiten, daß diese Befürchtungen berechtigt sind, bei der Machtfülle, die dem Staate heute zu Gebote steht, muß die nationale Minderheit von der andersnationalen Mehrheit das Schlimmste befürchten. Solange der Staatsapparat bei der Machtfülle belassen wird, die er heute hat und die ihm von der öffentlichen Meinung heute zuerkannt wird, ist es ein entsetzlicher Gedanke, in einem Staate leben zu müssen, dessen Regierung in der Hand Angehöriger einer anderen Nation ist. Es ist fürchterlich, in einem Staate zu leben, in dem man auf Schritt und Tritt der – sich unter dem Scheine der Gerechtigkeit verbergenden – Verfolgung durch eine herrschende Mehrheit ausgesetzt ist. Es ist fürchterlich, schon in der Schule wegen seiner Volkszugehörigkeit zurückgesetzt zu werden und vor jeder Gerichts- und vor jeder Verwaltungsbehörde Unrecht zu behalten, weil man nicht der herrschenden Nation angehört.
Betrachtet man den Konflikt unter diesem Gesichtspunkt, so scheint es, daß er eine andere als die gewaltsame Lösung durch Krieg nicht zuläßt. Es ist anzunehmen, daß dabei die an Zahl schwächere Nation unterliegen wird, daß es also z.B. den Hunderte Millionen zählenden Völkern Asiens gelingen werde, die Nachkommen der weißen Rasse aus Australien zu verdrängen. Doch wir wollen uns auf solche Vermutungen gar nicht einlassen. Denn sicher ist, daß solche Kriege – und wir dürfen doch wohl annehmen, daß ein Weltproblem von so großer Tragweite nicht mit einem mal in einem Krieg gelöst werden kann – zur fürchterlichsten Katastrophe der Zivilisation führen müßten.
Es ist eben klar, daß die Lösung des Wanderungsproblems nicht möglich ist, wenn man an dem Ideal des vielgeschäftigen Staates, der sich in jede menschliche Lebensäußerung einmengt, oder gar an dem des sozialistischen Staates festhält. Die Durchführung des Liberalismus würde es ermöglichen, das Wanderproblem, das heute unlösbar erscheint, zum Verschwinden zu bringen. Welche Schwierigkeiten könnten in einem liberal regierten Australien daraus entstehen, daß in einigen Teilen dieses Kontinents Japaner und in anderen Deutsche die Oberhand hätten?
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