Janina Misar, Vorstandsmitglied Hayek Club Zürich
Wenn sich Libertäre treffen, dann ist eines der häufigsten Themen stets die Frage, wieso der Liberalismus nicht erfolgreicher ist. In der Gruppe wird einem gegenseitig das Gefühl bestätigt, dass die Outgroup zu doof oder die Gesellschaft einfach nicht bereit dafür ist. Zwar gibt es für diese Annahmen durchaus auch gute Gründe, allerdings möchte ich vorliegend den Akzent lieber auf einen anderen Aspekt legen.
Was mich bei dieser Diskussion am meisten stört – das ist meine persönliche Wahrnehmung –ist die Tatsache, dass der Fokus dabei überwiegend auf andere Leute gerichtet wird. Dabei fängt doch Freiheit beim Individuum an – d.h. bei sich selbst. Wer sich dem Prinzip der Freiheit verschrieben hat, sollte also zuallererst sein eigenes Ich „ins Reine bringen“. Liberalismus ist dabei für mich eine Philosophie, die sich nicht nur mit den Prinzipien der Markwirtschaft, der politischen und sozialen Ordnung beschäftigt, sondern sie bietet auch ganz grundsätzlich einen moralischen Kompass für viele Fragen des Lebens.
Das Thema „self-ownership“ ist dabei essentiell und kommt meines Erachtens zu selten in den oben angesprochenen Diskussionen zur Sprache. Die Libertären wirken deshalb oft wie trotzige, kleine Kinder, die als letzte im Sportunterricht ins Team gewählt werden. Gerne wird dieser Trotz dann noch mit einem Übermass an Logik und Theorie kompensiert. Wie viele Leute dies effektiv inspiriert, ist für mich fraglich und den erwähnten Klagen nach zu urteilen nicht erfolgreich. Wer also auf eine freiere Gesellschaft hinarbeiten möchte, sollte zuerst einmal an sich selbst arbeiten.
Ich möchte nun ein paar Gedankenanstösse geben, wie dies möglich sein könnte.
Was möchte man denn eigentlich erreichen? Am ehesten sicherlich eine „bessere“ Welt, namentlich eine freiere Welt. Dazu braucht es mutige Leute, die es schaffen, andere zu inspirieren. Populismus mag heutzutage ein einfaches Mittel sein, aber er erschafft nichts Schönes, nichts Gutes. Es beflügelt niemanden. Die Welt zu verändern ist ein stetiger Prozess, der noch lange nicht zu Ende ist. Und doch habe ich den Eindruck, dass viele aufgehört haben, sich selbst in diesem Prozess weiterzuentwickeln. Wir glauben, die Antworten auf alle Fragen gefunden zu haben, wie eine freie Gesellschaft auszusehen habe. Wie schön und einfach es doch wäre, wenn sich nur alle anderen nun ändern würden. Aber das Entscheidende dabei ist, dass es nicht darum geht, die anderen zu ändern, sondern sich selbst. Und das mag vielleicht sogar noch schwieriger sein.
Wer zu Beginn mit einer neuen Idee in Kontakt kommt und eine neue Gedankenwelt entdeckt, möchte das gerne mit anderen teilen und glaubt oftmals, dass sie doch so logisch und offensichtlich ist. Man denkt, dass dies doch schliesslich jeder sofort einsehen können müsse! Allerdings trifft man bald auf Widerstand und andere Argumente, und damit kommt bald auch der Frust. Wir stellen fest, dass Veränderung nicht so schnell geht, wie wir es wünschen und erhoffen. Enttäuscht über das fehlende Verständnis der anderen und auch wütend, weiterhin in einer unfreien Gesellschaft zu leben, in der andere über fremde Leben bestimmen können, ziehen wir uns zurück in unser Privatleben. Gerade im Wohlstandsland Schweiz ist es sehr einfach, es sich trotz allem relativ gut gehen zu lassen. Der Fokus verschiebt sich zu materiellen Dingen, Konsum, Ablenkung durch Hedonismus, Überflutung durch Medien etc. Über die Zeit arrangieren wir uns mit dem Status quo oder treffen uns nur noch mit Gleichgesinnten, deren Sichtweisen uns in unseren Ansichten bestätigen.
Selbstverwirklichung strebt danach, die eigenen Stärken hervorzuheben und zu pflegen und die Schwächen auszugleichen. Aber wenn wir aufhören, an uns zu arbeiten, verlieren wir nicht nur den Kampf der besseren Ideen, sondern auch uns selbst. Es ist nicht möglich, nur durch Ideen überzeugen zu wollen. Jeder wird immer als Ganzes wahrgenommen. Wenn wir uns unserer eigenen „Biases“ nicht bewusst sind und uns diesen nicht stellen, wird ein grosser Teil der Ausstrahlung bzw. des Charismas fehlen. Dabei kann die Rhetorik noch so überzeugend sein, sie wird emotional nicht ankommen.
Wenn die Idee der Freiheit mehr Leute überzeugen soll, müssen wir anerkennen, dass der Mensch ein emotionales Wesen ist. Diese Emotionen gilt es nicht per se als irrationale, lächerliche Laune abzutun. Sie sind ein entscheidender Bestandteil unserer Entscheidungsfindung. Dabei gilt es nicht, rein gefühlsorientiertes Handeln immer zu bevorzugen und ausschliesslich ein solches als Argument zu akzeptieren, allerdings auch nicht, Emotionen gänzlich zu unterdrücken. Der Vorschlag könnte dahin gehen, solche Handlungsweisen genauer zu untersuchen, um deren sozialen und kognitiven Auswirkungen verstehen zu lernen. Dies ermöglicht uns eine kritischere Auseinandersetzung mit uns selbst aber auch mit unserem Gegenüber. Gefühle bestimmen unser Handeln mehr als uns vielleicht manchmal lieb wäre. Die Rationalisierung unserer Handlungen setzt meist erst dann ein, nachdem unsere Emotionen bereits eine Entscheidung vorgezeichnet haben, und sie richtet sich wann immer möglich auch nach dieser.
“He who knows only his own side of the case knows little of that. His reasons may be good, and no one may have been able to refute them. But if he is equally unable to refute the reasons on the opposite side, if he does not so much as know what they are, he has no ground for preferring either opinion… Nor is it enough that he should hear the opinions of adversaries from his own teachers, presented as they state them, and accompanied by what they offer as refutations. He must be able to hear them from persons who actually believe them… he must know them in their most plausible and persuasive form.” – John Stuart Mill, On Liberty
Deswegen erscheinen die meisten politischen Diskussionen von einem menschlichen Aspekt her gesehen so leer. Es geht nicht primär darum, die Debatte durch Argumente zu gewinnen – obwohl diese auf unserer Seite sind –, sondern den anderen zu verstehen und zu inspirieren, anzuregen, zu hinterfragen und sich selbst zu hinterfragen. Wenn ich jeweils ein Video auf Youtube sehe oder eine Unterhaltung miterlebe, in der jemand eine andere Person öffentlich für seine Argumente blossstellt, meist in der Überzeugung, so würde schliesslich eine Diskussion gewonnen, bin ich entsetzt. Ich finde, es ist Zeit zu verstehen, dass eine Veränderung der Gesellschaft damit anfängt, sich auch spirituell weiterzubilden, d.h. als Mensch zu wachsen. Dies muss keinesfalls esoterische Züge annehmen, was wohl eher kontraproduktiv für die liberale Bewegung wäre.
Mentale Stärke ist unverzichtbar in einer Welt, die so verrückt und voller Widersprüche und Gegensätze ist wie die unsrige. Sie ist unverzichtbar, um diese Belastung zu ertragen anstatt aufzugeben und um trotzdem noch Herzlichkeit denjenigen entgegenzubringen, die unsere Freiheit beschränken wollen. Ist es denn nicht unsere Verantwortung, zu mitfühlenden, starken, unabhängigen Individuen zu werden, wenn wir eine bessere Welt wollen? Wie kann man denn andere inspirieren, wenn man nicht einmal von sich selbst inspiriert ist und dies entsprechend positiv ausstrahlt?
Es gibt viele Wege, sich weiterzuentwickeln und zu wachsen, sei es durch Bildung, Lektüre, Reisen, Beziehungen, Arbeit usw. Wichtig dabei ist es, dies mit einer gewissen Intention und bewusst zu tun. Lektüre kann hierbei sogar eine ganz wesentliche Funktion einnehmen. Das bezieht sich aber nicht nur auf Sachliteratur. Inspiration und Bereicherung gewinnt man häufig auch über Lyrik und Prosa. Ein weiterer Schritt kann sein, so viel wie möglich über die menschliche Psychologie zu lernen. Wer das menschliche Handeln verstehen lernt (über „Human Action“ hinaus), wird auch weniger frustriert sein und weiss, dagegen anzukämpfen. Es hilft darum, sich nicht ausschliesslich mit Gleichgesinnten zu umgeben, die ähnlich denken und handeln.
Wer die Welt verändern will, muss in der Lage sein, sich selbst zu verändern. Man schaut die motivierenden Videos auf Youtube von Leuten an, die durch schwere Zeiten gegangen sind, die Hürden überwunden und etwas erreicht haben. Diesen Menschen hören wir gerne zu und wir zollen ihnen unseren Respekt, weil sie für etwas einstehen und für sich selbst gekämpft haben. Diese Menschen haben oft erfolgreich an sich gearbeitet. Sie haben das Mantra, wonach die Arbeit immer bei sich selbst beginnt, verstanden.
„Alle wollen die Welt verändern, aber keiner sich selbst.“ – Leo Tolstoi
Das Leben auf der Erde wird sich ziemlich sicher weiter verbessern, besonders dank neuer Technologien. Aber wir können nicht leugnen, dass auch schwierige Zeiten auf uns zukommen werden. Wenn nicht gesamtgesellschaftlich, so wird jeder von uns einmal schwere Tiefs im Leben durchstehen müssen. Es ist also höchste Zeit, sich nicht nur finanziell, sondern auch mental darauf vorzubereiten.
Wir leben fernab von Ländern wie Venezuela oder Nordkorea und deren sozialen und ökonomischen Krisen. Die Gefahr also, den philosophischen Kompass zu verlieren und sich auf triviale Dinge zu fokussieren, ist gross. Wenngleich ich in diesem kurzen Text leider nicht in die Tiefe des Themas einsteigen konnte, hoffe ich doch, dem einen oder anderen einen Denkanstoss mit auf den Weg gegeben zu haben. Es ist Zeit, vor allem für uns Liberale und Libertäre, Verantwortung für uns selbst zu übernehmen und „self-ownership“ wirklich zu leben, und dadurch über uns hinauszuwachsen. Erst dann können wir die Welt auf unseren Schultern tragen. Dabei weisst du glücklicherweise nie, wen du alles mit deinem Handeln inspirieren und auf diese Reise mitnehmen wirst.