Stell dir vor, deine Katze ist krank und benötigt eine dringende radiomedizinische Untersuchung. Wie lange wirst du auf einen Termin warten? Wenige Tage. Nun stell dir vor, du bist krank und benötigst genau die gleiche Untersuchung. Wie lange wartest du? Wahrscheinlich mehrere Monate. Absurd, offenbar aber britische Realität. Der Unterschied? Humanmediziner sind – freilich nur im Eigeninteresse des Patienten – stark reguliert und quasiverstaatlicht; Veterinärmediziner operieren hingegen im weitgehend freien Wettbewerb.
Für den ökonomischen Zeitgeist tönt diese Aussage ungeheuerlich. Die (populär-)wissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre kennen vor allem vier Stossrichtungen: mehr Regulierung, mehr Steuern, mehr billiges Geld und damit auch mehr Staatsausgaben. Der Vorbehalt Julien Brendas, Intellektuelle sind selten mehr als ideologische Erfüllungsgehilfen des Zeitgeistes, dürfte auf die meisten Philosophen, Ethiker und Theologen sowie ökonomisch halbgebildete Mitglieder der moralischen Klasse zutreffen. Für Ökonomen passt oft die (Carl) Schmitt’sche Selbstdiagnose: Macht und Zugang zu Machthabern.
Eamonn Butler, Direktor des Adam Smith Institute, liefert mit seinem neuesten Buch The Economics of Success. Twelve things politicians don’t want you to know eine Analyse und Konzepte aus liberaler Perspektive. Butler eröffnet mit einigen nüchternen Feststellungen. Noch nie hat die wirtschaftli- che Erholung nach einer Krise so lange auf sich warten lassen. Endlich, nach mehr als fünf Jahren erreichte Grossbritannien wieder das Vorkrisenniveau. Die keynsianischen Rezepte – mehr billiges Geld und mehr Staatsausgaben – brachten keinen Erfolg; schlimmer noch: Horten statt Investieren ist die Devise vieler Unternehmen. Die 250 grössten britischen Unternehmen verfügen über Cash-Bestände im Umfang von 750 Milliarden Pfund.
In den ersten beiden Kapiteln – The Sexy Idea of Capitalism & Crony Crapitalism (crony capitalism als Vetternwirtschaft verstanden) – werden Kapitalismus und seine Perversion gegenübergestellt. Zugleich werden Gründe dafür geliefert, warum es so ist, wie es ist. Die stetige Ausweitung der «öffentlichen Güter», Regierungs- oder Staatsversagen, die Eigeninteressen der Wähler (als doppeltes Principal-Agent Problem), einflussreiche Lobbygruppen sowie das Eigeninteresse der Bürokratie. Leuchttürme, ein klassisches Beispiel für ein öffentliches Gut, sind ohne Staat scheinbar undenkbar. Allerdings sind Leuchttürme keine Erfindung der Postmoderne; sie existierten – privatwirtschaftlich finanziert – bereits vor der „Erfindung“ des öffentlichen Interesses. Regulierung ist gut. Jedenfalls für diejenigen Player, welche bereits auf dem Markt sind und sich so lästige Konkurrenz vom Hals halten können. Warum soll ich mich auf die Unwägbarkeiten des Marktes einlassen, wenn es ein Verordnungsentwurf für ein neues Regulierungsvorhaben auch tut? Die neue Verordnung – sogar im öffentlichen Interesse! – schafft nicht nur hohe Markteintrittsbarrieren für neue Konkurrenten; sie schwächt auch meine kleineren Konkurrenten.
How to Create Your Own Financial Crisis? Kapitel 3 ist Mario Draghi gewidmet. Man nehme viel billiges Geld, reichlich öffentliches Interesse und gebe alles einer neuen Behörde im Gewand einer Bank. Gleichzeitig soll man den Kreditvergabeprozess von einer privaten Agentur bewerten lassen und der Bank erlauben die Kredite weiterzuverkaufen. Ob der Kreditvergabeprozess dann eingehalten oder gelegentlich ein Auge zugedrückt wird, steht woanders geschrieben. Typische risikorelevante Entscheidungskriterien sind im Namen der Antidiskriminierung auszublenden, um ein Ziel zu erreichen: ein Haus für jeden Amerikaner, koste es, was es wolle! Übrigens, der gleiche Staat hat bis in die 1970er Jahre hinein die Kreditvergabe an Farbige massiv erschwert – natürlich im «öffentlichen Interesse» (Niall Ferguson: The Ascent of Money, London 2009).
Philosophen, Ethiker und Theologen lehren uns, dass der Markt eine zutiefst unmoralische Institution ist. Butler widerspricht im 7. Kapitel – The Morality of Markets – dieser Orthodoxie. Offene Märkte fördern den Frieden zwischen den Völkern und sorgen – ganz ohne Antidiskriminierungsverordnung – für Gleichbehandlung durch die Hervorhebung des Austauschverhältnisses. Deine Hautfarbe interessiert mich nicht, mich interessiert dein Geld! Deine Religion interessiert mich nicht, mich interessiert allein dein Produkt! Gleichzeitig sind offene Märkte Voraussetzung für Mäzenatentum. Nur wer durch sein Eigeninteresse – ethisch: Gier – ein Vermögen erworben hat, kann irgendwann auch Geben. So verwundert es kaum, dass der durchschnittliche Amerikaner doppelt so viel spendet wie der durchschnittliche Brite. In den Vereinigten Staaten existieren zahlreiche Stiftungslehrstühle. In Zürich wurde die Grosspende einer Grossbank zur Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit stilisiert. Wir präzisieren: zur Bedrohung der eigenen, einzig richtigen Wissenschaft und Forschung. Freiheit heisst nicht frei von Konkurrenz.
Italien ist ein kranker Mann. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und das Land gilt als wenig wettbewerbsfähig. Hauptursache der geringen Wettbewerbsfähigkeit dürfte die geringe Unternehmensgrösse sein; die überwältigende Mehrheit der Unternehmen hat weniger als 15 Mitarbeiter. Bei solchen Grössen ist eine kapital- und personalintensive Produktentwicklung kaum möglich. Grund für die geringe Unternehmensgrösse ist nicht etwa Faulheit, Bequemlichkeit oder unternehmerisches Unvermögen; Hauptgrund ist der Einfluss der Gewerk- schaften und des Arbeitsrechts. Das italienische Recht kennt weitgehende Vereinfachungen für Kleinstunternehmen. Ein paar Mitarbeiter zuviel und die volle Härte des Gesetzes greift (fast „perfekter“ Kündigungsschutz, «ungerechtfertigte» Kündigung als Straftatbestand und weitgehender Einfluss der Gewerkschaften). Insofern ist klein nur rational. Im Kapitel 9 – Employment Regulation – wird der wohlgemeinte Einfluss auf den Arbeitsmarkt untersucht. Mindestlöhne sorgen nicht nur für mehr Arbeitslosigkeit; sie sind auch eine wirksame Markteintrittsbarriere für Migranten und Geringqualifizierte. Im gleichen Kapitel diskutiert Butler die Auswirkungen des quasiverstaatlichten britischen Gesund- heitswesens. Die wohlmeinende Nivellierung – Stichwort „Zweiklassenmedizin“ – führte letztlich zu schlechteren Leistungen für alle. Gegenbeispiel ist Singapur. Statt kollektive Zwangsversicherung gibt es dort „nur“ Zwangssparen auf dem eigenen Konto. Die Arztrechnung wird vom eigenen Konto bezahlt, sorgt so für Qualitätsbewusstsein und Wettbewerb im Gesundheitswesen. Ganz ohne staatliche Gesundheitswesenqualitätskontrollbehörde.
In den beiden Schlusskapiteln – Standing Out of the Light & The Agenda for Growth – verdeutlicht Butler zunächst, dass die wirkungslosen Rezepte der Vergangenheit weiterverfolgt werden. Mehr Staatsausgaben heisst letztlich weniger private Investitionen. Es verwundert daher kaum, dass die amerikanische Wirtschaft – die USA sind gewiss kein fiskalpolitischer Musterknabe – regelmässig stärker als die des Vereinigten Königreichs wächst. Die Wohlstandsverluste durch ungebremstes Staatswachstum betragen etwa 2.1% p.a. des BIP in Grossbritannien und 2.6% p.a. in der Schweiz. Eine Wachstumsagenda muss organisch sein; sie darf nicht von einem künstlichen Stimulus ausgehen. Stimuli verpuffen regelmässig schnell und fördern regelmässig etablierte, nicht aber innovative Branchen. Butler entwirft eine Wachstumsagenda, die auf wenigen Komponenten basiert: Vereinfachung des Steuersystems und Senkung des Steuerniveaus, Einschränkung der Regierungsmacht (Expansion des Staates im öffentlichen Interesse), ausgeglichene Haushalte, Deregulierung, Öffnung der Märkte, Wiederherstellung funktionierender Geldmärkte (und Vermeidung von boom und bust cycles) und trust free people not experts – der Einzelne weiss besser, was er braucht.
Die gesamte Darstellung basiert auf einem nüchternen Menschenbild. Natürlich gibt es Gier, natürlich machen Menschen Fehler und handeln kurzfristig. Butler lenkt den Blick jeweils auf Anreize, die dieses Verhalten provozieren. Zurück zu den Intellektuellen. Keynes hatte keine Katze. Keynes hatte Hayek. Nach Gesprächen mit Hayek – er publizierte 1944 seinen Weg zur Knechtschaft – erkannte Keynes die Unzulänglichkeiten seiner General Theory und versprach eine weitgehende Anpassung seines Standardwerks. Die Umsetzung wurde durch Keynes’ frühen Tod verhindert. Der Altmeister glaubte also selbst nicht mehr an seine Theory. Die Erfüllungsgehilfen – die denkende Klasse – tut es weiterhin.
Der Österreicher gewinnt eine Einsicht. Die grössten argumentativen Schwächen des Liberalismus dürften darin bestehen, dass dieser – ganz im Gegensatz zum Sozialismus – kein Paradies auf Erden verspricht und weitgehend auf rationalen Argumenten aufbaut. Argumente der Moral sind regelmässig die Argumente der „sozial Gerechten“. Die trockenen Argumente der Rationalität sind in der Gefühlswelt des ökonomisch Unbefangenen unterlegen. Freilich geht es nicht um eigene Heilsversprechen; es geht um die Offenlegung von Illusionen und um die Demaskierung der vermeintlichen moralischen Überlegenheit. Für diese Debatte, auch die hiesige, liefert Butler zahlreiche Argumente.
Insofern wird der Österreicher das Buch mit Genuss verschlingen. Auch vielen Liberalen und Zweiflern wird der eigene Irrweg aufgezeigt. Für ökonomisch Unbefangene liefert Butler ein leicht verständliches Plädoyer für eine freie Marktwirtschaft. Möge es den Weg unter viele Weihnachtsbäume finden.
Butler, Eammon: The Economics of Success. Twelve things politicians don’t want you to know, London (Gibson Square) 2014. Natürlich nicht im Buchhandel vorrätig aber zumeist bestellbar, Lieferzeit 2-3 Wochen, ca. 25 Franken.
Steve S. Lutzmann, (Master-)Student der Rechte an der Universität Zürich