Befürworter einer Reglementierung des Besitzes von Schusswaffen nehmen oft an, die Angemessenheit der Waffengesetze hänge davon ab, ob die Kriminalitätsrate dadurch zu- oder abnimmt. Der Gedanke, dass solche Gesetze Rechte verletzen könnten, kommt selten auf. Auch dem Interesse von Waffenbesitzern, ihre Waffen zu behalten und zu benutzen, wird gewöhnlich kein großes Gewicht beigemessen. So bemerkte einmal ein Kollege, der in dieser Frage unterrichtet, mir gegenüber, dass vom Standpunkt der Rechte im Unterschied zu utilitaristischen Überlegungen wenig zu sagen sei. Das einzige Recht, das vielleicht tangiert werde, sei ein „unbedeutendes Recht – ‚Das Recht, eine Schusswaffe zu besitzen‘“. Gleichermaßen hat Nicholas Dixon seinen Verbotsvorschlag für alle Kurzwaffen als „kleinere Einschränkung“ bezeichnet und das Interesse der Waffenbesitzer, ihre Waffen zu behalten, als „unbedeutend“ gegenüber den Gefahren von Waffen.
Ich halte diese Ansichten für töricht. […]
Annahme über die Natur von Rechten
Ich fange mit einigen allgemeinen Bemerkungen über den moralischen Rahmen an, den ich voraussetze. Ich nehme an, dass Menschen zumindest einige moralische Rechte besitzen, die logisch den Gesetzen vorhergehen, die der Staat erlässt, und dass diese Rechte Schranken dafür setzen, welche Art von Gesetzen erlassen werden soll. Ich nehme an, dass wir uns an unsere Intuition richten dürfen, um einige dieser Rechte zu finden. Ein Beispiel ist das Recht, keiner körperlichen Gewalt ausgesetzt zu werden: Intuitiv ist es, ceteris paribus [also unter gewöhnlichen Umständen, A. d. Ü.], falsch für Menschen einander Gewalt anzutun, und das beschränkt, welche Art von Gesetzen moralisch erlassen werden dürfen. Es erklärt beispielsweise, warum der Staat kein Gesetz erlassen darf, demzufolge wöchentlich in jedem Bezirk eine Person zufällig herausgegriffen und ausgepeitscht wird.
Ich würde weiter annehmen, dass wir normalerweise ein Recht haben, zu tun wie uns beliebt, solange kein Grund vorliegt, aus dem uns das nicht gestattet sein sollte; und somit derjenige, der uns das Recht auf eine bestimmte Handlung abspricht, die Beweislast trägt, Gründe gegen das betreffende Recht anzuführen. Umgekehrt muss derjenige, der ein Recht behauptet, nur auf diese angeblichen Gründe eingehen.
Welche Art von Gründen würde zeigen, dass wir kein Recht haben, eine bestimmte Handlung auszuführen? Ziehen wir drei relevante Möglichkeiten in Betracht:
- Plausibel ist, dass wir noch nicht einmal ein Anscheinsrecht haben, Dinge zu unternehmen, die anderen schaden, oder sie als bloßes Mittel gebrauchen oder sie ohne deren Einwilligung gebrauchen. Ich habe also keinerlei Anspruch darauf (im Unterschied zu einem Anspruch, der hinter anderen Ansprüchen zurückstehen muss), dass mir gestattet wird, andere Leute zu verprügeln oder auszurauben.
- Vielleicht haben wir kein Anscheinsrecht, etwas zu unternehmen, das andere – wenn auch ungewollt – hohen Risiken aussetzt, selbst wenn diese Risiken nicht eintreten. Wenn meine bevorzugte Art der Freizeitgestaltung beinhaltet, dass ich mitten im Wohngebiet mit meinem Gewehr ziellos umher schieße, obgleich ich nicht darauf aus bin, jemanden zu treffen, wird mein angebliches Recht, mich zu amüsieren, zumindest verdrängt, vielleicht aber auch gänzlich ausradiert aufgrund der Gefahr für andere.
- Vielleicht haben wir kein Anscheinsrecht, etwas zu unternehmen, das dem vernünftigen Anschein nach von der Absicht zeugt, anderen zu schaden oder sie unerträglichen Risiken auszusetzen. Beispielsweise darf ich nicht mit gezücktem Schwert auf Sie zu rennen, selbst wenn ich tatsächlich nicht beabsichtige, Sie zu verletzen. Das Prinzip erklärt außerdem, warum wir Leute dafür bestrafen, dass sie Straftaten nur versuchen oder sich zu ihnen verabreden.
Es mag andere Arten von Gründen dafür geben, eine Handlung von der Annahme zugunsten der Freiheit auszunehmen. Die obige Liste scheint jedoch die Gründe abzudecken, die für den Bestand eines Rechts, Schusswaffen zu besitzen, relevant sein könnten. Ich nehme insbesondere an, dass die folgende Art von Überlegungen nicht ausreicht, um ein Anscheinsrecht, A zu tun, abzulehnen: Dass eine unauffällige Korrelation zwischen dem Ausführen von A und dem Ausführen anderer unrechtmäßiger Handlungen besteht. Nehmen wir zur Erläuterung an, dass Leser des Kommunistischen Manifests etwas eher als der Durchschnittsbürger versuchen, die Regierung gewaltsam umzustürzen. (Dies könnte daran liegen, dass solche Leute eher zuvor schon Umsturzpläne hegen, und/oder daran, dass das Lesen des Buches gelegentlich Leute dazu bringt, solche Pläne zu schmieden.) Ich nehme an, dass dies nicht zeigen würde, dass es kein Anscheinsrecht gibt, das Kommunistische Manifest zu lesen, obwohl die Lage vielleicht anders wäre, wenn das Lesen des Manifestes eine sehr starke Tendenz hätte, revolutionäre Anstrengungen zu verursachen, oder wenn das Auftreten dieser Wirkung nicht von weiteren freien Willensentscheidungen seitens des Lesers abhinge.
[…]Gibt es ein Anscheinsrecht auf Waffenbesitz?
Ausgehend von der Vermutung zugunsten der Freiheit besteht zumindest ein Anscheinsrecht darauf, eine Schusswaffe zu besitzen, solange es keine eindeutigen Anhaltspunkte der oben besprochenen Art gibt, ein solches Recht abzustreiten. Bestehen derartige Gründe?
- Beginnen wir mit dem Prinzip, dass man kein Recht hat, etwas zu tun, das anderen schadet, sie als bloßes Mittel gebraucht oder sie ohne ihre Zustimmung gebraucht. Es fällt schwer sich vorzustellen, wie der bloße Besitz einer Schusswaffe irgendetwas in dieser Art bewerkstelligen sollte, obgleich der Besitz einer Waffe solche Taten erleichtert, sollte sich der Besitzer zu ihnen entschließen. Wir verbieten jedoch für gewöhnlich keine Handlungen, die es lediglich erleichtern, eine Missetat zu begehen, aber eine gesonderte Entscheidung erfordern, um sie auszuführen.
- Nehmen wir das Prinzip, dass man kein Recht hat, Dinge zu tun, die anderen unerträgliche – wenn auch ungewollte – Risiken aufbürden. Weil das Leben voller Risiken steckt, muss das Prinzip, um plausibel zu sein, eine Festlegung beinhalten, welche Risiken als untragbar gelten. Die Risiken, welche vom gewöhnlichen Waffenbesitz und Freizeitgebrauch von Waffen ausgehen, sind jedoch minimal. Während nun ungefähr 77 Millionen Amerikaner Waffen besitzen, ist die relative Zahl von Unfalltoten im Laufe des letzten Jahrhunderts dramatisch gesunken und liegt nun bei ungefähr 0,3 von 100.000 Einwohnern. Zum Vergleich: Es ist für den Durchschnittsbürger 19-mal wahrscheinlicher, bei einem Unfall in den Tod zu stürzen, und 50-mal wahrscheinlicher, bei einem Autounfall zu sterben, als infolge eines Unfalls mit Schusswaffen zu sterben.
- Manche mögen denken, die Unfallstatistiken gingen am eigentlichen Problem vorbei: Das wahre Risiko des Waffenbesitzes für andere bestehe in der Gefahr, dass der Waffenbesitzer oder jemand anderes im Streit „die Kontrolle verliert“ und sich entschließt, seinen Widersacher zu töten. Nicholas Dixon legt dar: „Im Jahre 1990 wurden 34,5 % aller Morde im häuslichem oder sonstigen Streit verübt. Denn wir sind alle zu hitzigen Auseinandersetzungen fähig, und wir sind alle unter den falschen Umständen zum Kontrollverlust und dem Töten unseres Widersachers fähig.“ Im Zuge der Antwort sollten wir zuerst die Ungültigkeit seiner Schlussfolgerung anmerken. Angenommen 34,5 % der Menschen, die eine Meile in unter vier Minuten laufen, haben schwarzes Haar, und ich bin schwarzhaarig. Daraus folgt nicht, dass ich eine Meile in weniger als vier Minuten laufe. Es liegt nahe, dass nur sehr atypische Individuen auf einen hitzigen Streit mit dem Töten ihrer Widersacher reagieren. Zweitens werden Dixons und McMahans Behauptungen durch die empirischen Befunde widerlegt. In den größten 75 Bezirken der Vereinigten Staaten hatten 1988 über 89 % der erwachsenen Mörder zuvor einen Eintrag im Führungszeugnis [in der Schweiz der Strafregisterauszug, Anm. HCZ]. Dies bestätigt, was der gesunde Menschenverstand sagt, nämlich dass es für normale Menschen extrem unwahrscheinlich ist, einen Mord zu begehen, selbst wenn sie die Mittel dazu haben. Daher stellt Waffenbesitz typischerweise kein untragbares Risiko für andere dar.
- Betrachten wir die Meinung, dass Menschen kein Recht haben, Handlungen auszuführen, die vernünftigerweise als Beleg für die Absicht erscheinen, anderen zu schaden oder ihnen untragbare Risiken aufzubürden. Dieses Prinzip greift hier nicht, da von allen Seiten zugegeben wird, dass nur ein winziger Bruchteil der Millionen Waffenbesitzer vorhat, mit Waffen Straftaten zu begehen.
- Man kann behaupten, die gesellschaftlichen Gesamtkosten privaten Waffenbesitzes seien erheblich und der Staat nicht in der Lage, diejenigen Personen zu bestimmen, die ihre Waffe missbrauchen wollen. Daher verbleibe dem Staat als einzig gangbare Methode, die gesellschaftlichen Kosten zu senken, selbst unbescholtenen Bürgern den Besitz von Schusswaffen zu verbieten. Aber dies ist kein Argument gegen ein Anscheinsrecht auf Waffenbesitz. Es ist nur ein Argument zur Verdrängung eines jeden derartigen Rechts. Im Allgemeinen zeigt die Tatsache, dass die Einschränkung einer Handlung günstige Konsequenzen hat, nicht, dass der Freiheit, sie durchzuführen, kein Gewicht beigemessen werden soll; sie zeigt lediglich, dass es widerstreitende Gründe gibt, die Handlung nicht zu erlauben. (Zum Vergleich: Angenommen, dass die Wegnahme meines Autos und die Übertragung desselben an Sie die gesellschaftliche Wohlfahrt insgesamt verbessert. Daraus würde nicht folgen, dass ich keinerlei Anspruch auf mein Auto habe.)
Es fällt schwer, die Existenz zumindest eines Anscheinsrechts auf Waffenbesitz zu bestreiten. Aber dies sagt nichts über die Stärke dieses Rechts aus und auch nicht über mögliche Gründe zu seiner Verdrängung. Die meisten Verfechter einer Reglementierung von Schusswaffen würden nicht bestreiten, dass ein Anscheinsrecht auf Waffenbesitz besteht, sondern behaupten, dass es sich um ein untergeordnetes Recht handele, und dass privater Waffenbesitz vergleichsweise sehr großen Schaden anrichte.
[…]Schluss
Menschen haben ein Anscheinsrecht (engl. prima facie right), Schusswaffen zu besitzen. Dieses Recht ist bedeutsam sowohl in Hinblick auf die Rolle, die Waffenbesitz im Leben von Waffenbegeisterten spielt, als auch auf den Selbstverteidigungsnutzen von Schusswaffen. Dieses Recht wird auch nicht durch den gesellschaftlichen Schaden privaten Waffenbesitzes verdrängt. Dieser Schaden wurde stark aufgebauscht und ist vermutlich erheblich kleiner als der Nutzen privaten Waffenbesitzes. Und ich lege dar, dass der Schaden den Nutzen um ein Vielfaches übertreffen müsste, um ein Verbot von Schusswaffen zu rechtfertigen.
Michael Huemer, US-amerikanischer Philosoph und Professor (dt. Übers. durch Thomas Leske)
Auszug aus: Michael Huemer, Wider die Anmassung der Politik: Über das Unrecht der Drogen-, Einwanderungs- und Waffengesetze und die Tugend der Politikverdrossenheit, Edition Leske, 2015