Pascal Hügli, Journalist in Zürich & Blogger auf https://embracingparadoxes.wixsite.com/pascalhuegli
Menschen lieben es, zu kategorisieren. Klar definierte Kategorien ermöglichen Identifikation und somit Einheit und Gruppenzugehörigkeit. Wie Friedrich August von Hayek – und vor ihm bereits bedeutende Soziologen – erkannt hat, besitzt der Mensch ein ihm innewohnendes Verlangen der Sippenzugehörigkeit gewissermassen als anthropologische Komponente. Was jedoch Einheit gegen innen schafft, grenzt sich notgedrungen gegen aussen ab. Wer kategorisiert, schubladisiert zugleich und schafft so einen Kontrast zu anderem. Es ist diese zutiefst menschliche Eigenschaft des Sippendenkens, welche sich heute insbesondere im Bereich der Ideen zeigt. Als Folge eines seit mehreren Jahrhunderten andauernden Prozesses der Auflösung von Sippengemeinschaftselementen, an deren Stelle die grosse Vergesellschaftung vormals heterogener Menschengruppen getreten ist – insbesondere durch das Aufkommen nationalstaatlichen Denkens befördert –, sucht der auf Sippenschaft konditionierte Mensch nach noch vorhandenen Anknüpfungspunkten. Während die Vergesellschaftung über einen vereinenden Nationalstaat bei den individuellen Handlungsmöglichkeiten der Menschen eine starke Vereinheitlichung und Kanalisierung zeigt, scheinen Homogenisierungsversuche bei den Ideen nach wie vor zu scheitern – zum Glück. Jemandem vorzuschreiben, was er machen darf, ist immer noch einfacher, als jemandem vorzuschreiben, was er denken soll.
Kampf der ideologischen Welten
Wenn es auch sicherlich weitere Gründe gibt, so ist diese grosse Vergesellschaftung und die damit einhergehende Einebnung menschlicher Handlungsoptionen ein wichtiger Grund dafür, dass sich Menschen heute derart stark über eine gemeinsame Ideologie zu identifizieren versuchen. Ideologien schaffen das vormals durch Sippenbezüge sichergestellte Zugehörigkeitsgefühl und werden deswegen heute als verbliebener Ankerpunkt bemüht.
Ideologien sind per se nichts Schlechtes, beinhalten diese doch stets einen Kern Wahrheit und haben deshalb einen gemeinschaftsstiftenden Charakter. Gleichwohl werden Ideologien heutzutage vor allem kritisch gesehen. Niemand will als Ideologe verschrien sein. Der Begriff ist ein Schimpfwort, der einen unmittelbar disqualifiziert. Wohl ein Grund für diese Tendenz ist der Umstand, dass sich Ideologien heute eben vielfach nicht mehr durch überlegte und in sich stimmige Weltansichten auszeichnen, sondern mit zahlreichen widersprüchlichen, bis zur Unkenntlichkeit entstellten Kampfbegriffen geschwängert sind und deswegen gänzlich unattraktiv wirken.
Das führt zu allerlei Verwirrung, paradoxen Allianzen und unnötigen Feindschaften. So kommt es dazu, dass auf der einen Seite die Gruppe jener steht, die das heutige „System“ grundsätzlich aus einem gut gemeinten Pragmatismus befürwortet, während sich auf der anderen Seite die Truppe kompromissloser Systemkritiker in Stellung bringt. Obschon sich innerhalb der Gruppe der System-konformen politische Gegner des sozialdemokratischen, nationaldemokratischen und liberaldemo-kratischen (alle sind demokratisch, da die Demokratie zum gemeinsamen Fundament dieser Gruppierungen gehört) Flügels gegenüberstehen, werden diese von den Systemkritikern (von Marxisten, Sozialisten sowie Libertären zugleich) als blosse Pseudokontrahenten bezeichnet, die letzten Endes alle keinerlei Interesse an tatsächlicher Veränderung hätten, sondern bloss die eigenen Pfründe im bestehenden „System“ zu sichern bestrebt seien.
Von den Rängen etablierter Systembefürwortern wiederum ertönt der Konter, wonach weder Hardcore-Sozialisten noch Radikallibertäre einen Bezug zur Wirklichkeit pflegten. Stattdessen verstrickten sich diese lieber in der Ersinnung utopischer Gesellschaftsentwürfe und würden dabei einen regelrechten Kult um ein paar wenige Denker und deren Ideen treiben. Paradoxerweise paktieren dann Marxisten und Libertäre und schimpfen gegen die Allianz der Systemgünstlinge von Parteiliberalen und Sozialdemokraten.
Illusionen statt Erkenntnisgewinn
Leider strahlen diese beiden Pole heute eine starke Sogwirkung aus. Wir nennen den einen Pol davon die Gruppe des staats- und politiktragenden Pragmatismus und den anderen Pol jene Gruppe der politisch nicht anerkannten Systemkritik. Entweder man wurde durch das System enttäuscht, kehrt diesem aus Frust den Rücken zu und sucht sich sein Heil in einer der zahlreichen ideologischen Ausrichtungen der Systemkritik, von denen jede ihren Kern Wahrheit hat; nur wird dieser Kern dann über ein gesundes Mass aufgebläht und verkommt somit zur systemartigen Scheinlösung. Oder aber man hält das ewige Fantasieren, Theoretisieren und Philosophieren über mögliche Alternativsysteme nicht mehr aus, beginnt sich politisch zu engagieren und gerät in den Strudel des seichten Polit-Pragmatismus, vor welchem man über Jahre gewarnt hatte.
Es sind diese Anziehungskräfte, welche in beide Richtungen ungemein stark wirken und gefährlich sind, teils sogar lebensgefährlich sein können – im Sinne von existenzgefährdend.
Auf der einen Seite stehen die bequemen Angebote und bestechend anmutenden Meinungen des „Systems“, wovon erstere durchaus lukrativ sind und letztere als gänzlich alternativlos ausgegeben werden. Doch wer das allseits Angebotene und das allgemein Anerkannte als das einzig Richtige betrachtet und es nicht wagt, über den Tellerrand hinauszuschauen, ist weder vor Illusionen sicher noch gegen Täuschungen gefeit. Auch wird man womöglich zu spät auf vielversprechende Züge aufspringen oder aber verborgene Edelsteine überhaupt nie erkennen. Typisch für diese Seite ist es, dass man sich im Zuge unerwarteter Erschütterungen und Ereignisse nur über die Geschehnisse empören kann und unüberlegt handeln muss, da man die Entwicklungen in keinster Weise einzuordnen, geschweige denn zu deuten weiss.
Doch auch die andere Seite führt in die Sackgasse. Wer hier landet, tut dies oft aufgrund der Enttäuschung über das bestehende System und weil dieses nicht gehalten hat, was es zu versprechen vorgab. Um über die Enttäuschung hinwegzukommen, sucht man gewissermassen als Gegenreaktion auf die Enttäuschung Zuflucht in einer Antithese zum System, eben einem Anti-System. In der Übertreibung hält man dann schnell alles, was sich dem System widersetzt und dieses gegenteilig spiegelt, im Umkehrschluss für das einzig Richtige. Für diese Seite sodann bezeichnend sind sogenannte Buchintellektuelle, die ständig ihre Lehrmeister zitieren, unabhängig davon, wie sich die Welt verhält. Widerspricht die Welt den eigenen Dogmen, ist das umso schlechter für die Welt!
Bedauerlicherweise ist für viele Menschen die Wirklichkeit oft nur binär, es gibt das eine oder das andere Extrem. Problematisch ist diese Tatsache deshalb, da beide Pole letzten Endes wenig Er-kenntnisgewinn stiften, sondern viel eher Utopien, Scheinwelten und hochtrabende Irrtümer nähren. Erkenntnis und Wissen sind jedoch unabdingbar im Leben, bewahren sie nicht nur vor Illusionen und Parallelwelten, sondern begünstigen realitätsnahes Handeln. Obschon heute von vielen Menschen gegenteilig gedacht, sind Erkenntnis und Wissen praktische Werkzeuge, ja gewissermassen die Voraussetzungen für echte Praxis. Ohne eine aus Erkenntnis und Wissen gewachsene Theorie bleibt die Praxis leeres Tun.
Die Wahrheit als Ganzes
Angesichts dieser beiden Extreme hat sich ein jeder Liberale die Frage zu stellen, ob er denn mögli-cherweise – unbewusst – in eines der zwei Extreme abgedriftet ist. Vielleicht ist er bereits Teil des Systems und hat es vor lauter pragmatischem Tun und Engagement überhaupt nicht bemerkt. Oder aber er hat das System schon längst hinter sich gelassen und ist sich seiner Systemkritik so sicher, dass er glaubt, diese kaum jemals noch hinterfragen zu müssen.
Wer sich an dieser Stelle angesprochen fühlt, der hat wohl soeben eine erste wichtige Erkenntnis gemacht. Vorausgesetzt aus dieser ersten Erkenntnis resultiert das Verlangen, sich zu öffnen. Doch nicht irgendwelchen neuen vorgefertigten Teilwahrheiten gilt die Öffnung, sondern eben der ganzen Welt mit ihrer Komplexität, all den Widersprüchen und Paradoxien. Es geht nicht darum, bei einer Ideologie stehen zu bleiben, sondern das Feld von sich widersprechenden Weltansichten auf fruchtbare Halme der Erkenntnis abzugrasen. Mit einer gewissen Demut soll das wundersame Muster der Wirklichkeit betrachtet werden – das durch die Widersprüche gebildet wird –, um darin die Welt und damit die Realität besser zu verstehen. Nicht das Verabsolutieren eines Ausschnitts der Wirklichkeit ist das Ziel, sondern das Betrachten der Wahrheit als Ganzes, das keinen Einzelwahrheiten folgt. Der Pfad der Erkenntnis, der niemals endet, die geteilte Liebe zur Wahrheit ergibt sich aus der fruchtbaren Synthese von sich widersprechenden Ideen. Denn die Suche nach Widersprüchen befreit nicht nur von trügerischen Harmonien, sie belebt auch den Geist und nötigt das eigene Denken zu stetiger Besinnung. Denn letzten Endes müssen sich Widersprüche im grösseren Rahmen der Wahrheit überhaupt nicht einmal widersprechen, sie können sich sogar ergänzen.
Eine solche Herangehensweise impliziert jedoch keineswegs einen Relativismus, der einen prinzipienlos durch das Leben gehen, keine Urteile mehr treffen und keine Stellung mehr beziehen lässt. Sehr wohl gilt es, Mass zu halten, moralisch zu handeln und Prinzipien zu folgen. Es braucht echtes Rückgrat, denn Zwang ist oft bequemer als Freiheit; eine Lüge weitaus bequemer als Ehrlichkeit; Feigheit bequemer als Mut; Faulheit bequemer als aktives Schaffen; Ansehen bequemer als Missachtung.
Nur wer über ethische Prinzipien verfügt und diese nicht allzu oft übertritt, was diese ansonsten bedeutungslos machen würde, ist dazu angehalten, das Richtige zu tun. Wer jedoch andererseits alles seinen Prinzipien unterordnet, der folgt nur dem Prinzip. Und das ist gewagt, nicht weil man etwas verpassen, sondern weil man etwas übersehen könnte. Denn die Realität ist nun einmal weitaus komplexer, als dass wir sie mit Prinzipien abschliessend erfassen könnten.
Um diesen Balanceakt zwischen Prinzipientreue und Aufgeschlossenheit meistern zu können, verlässt man sich wohl am besten auf den eigenen Hausverstand, das eigene Bauchgefühl. Doch fördern Bauchentscheidungen nicht etwas die Willkür? Ja, aber nicht in dem Sinn, wie die Willkür heute verstanden wird. Gemeint ist nicht die Unordnung. Gerade wo der Wille kürt, also eine bewusste Entscheidung trifft, herrscht eben keine Beliebigkeit. Obwohl sich Bauchentscheide schlecht trainieren lassen, kann das Bauchgefühl mit einem Fundament gefüttert werden, aus dem es sich speisen kann.
Erkenntnis als praktisches Werkzeug
Dieses Fundament ergibt sich aus dem Fundus unseres Wissens, das bei Weitem nicht nur bewusstes Wissen ist. Wiederum sind es Erkenntnisstreben und -gewinn, die diesen Fundus anreichern. Wir benötigen Wegweiser, Inspiration und Perspektive. Dabei hilft uns die Literatur. Sie ist voll von bemerkenswerten Inspirationen, konkreten Anleitungen für ein gutes Leben, von lehrreichen Botschaften der Lebensbejahung und -freude, von massgebenden Wegweisern für erfülltes Tun sowie tiefgründigen Perspektiven grosser Denker. Der unerschöpfliche Bestand an Literatur ist mit einer Werkzeugkiste zu vergleichen. Die darin enthaltenen Werkzeuge können wir dazu verwenden, die Welt, unser Leben sowie uns selbst besser zu verstehen. Werkzeuge, die uns helfen, ein gutes Leben zu führen. Manch ein Werkzeug, oder eben ein Stück Wissen, scheint nicht auf Anhieb brauchbar. Erst einige Zeit später oder in Kombination mit anderem Wissen erkennen wir den Nutzen. Jeder Wissensfetzen ist eine Art Puzzle und ergänzt die Sicht auf das unendlich grosse und komplexe Bild der Realität. Deswegen beschränken wir uns auch nicht nur auf die liberale Tradition, sondern graben auch in anderen, uns vielleicht düster vorkommenden Stollen nach Brocken der Erkenntnis.
Gleichzeitig fokussieren wir uns nicht nur auf gewisse Disziplinen. Vielmehr versuchen wir uns als Universaldilettanten und machen die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Theologie, Ökonomik und viele weitere Bereiche abwechselnd zu unserem täglichen Brot.
Es ist der Wunsch des Autors dieser Zeilen, dass sich Menschen in der Schweiz für einen Lese- und Gesprächskreis zusammentun, der im Geiste der alten Gelehrtentradition steht. Das Studium grosser Werke unterschiedlicher Denker soll dabei im Vordergrund stehen. Dabei gilt es, sich nicht nur auf einen Wissenschaftszweig oder eine Denktradition zu verlassen, um ideologische Immunisiertheit vermeiden zu können. Wer an einer solchen Idee Interesse hat und mehr darüber erfahren möchte, der möge sich gerne bei mir melden: embracingparadoxes@gmail.com.