David Dürr, Prof. Dr. iur., LL.M., Rechtsanwalt und Notar
Wenn ich jeweils in Seminaren oder sonstigen Diskussionen eine Rechtsordnung ohne Staat postuliere und damit skeptische Blicke, Einwände und Proteste ernte, kommt regelmässig auch der Einwand, so etwas gebe es ja nirgends, das sei, im Sinn des Wortes, eine Utopie (Ou Topos = griechisch: kein Ort). – Oh doch, wende ich dann jeweils ein, das gibt es sehr wohl. Es gibt ein Land auf dieser Welt mit einer Rechtsordnung, die gänzlich ohne das staatstypische Rechtsmonopol auskommt; ein Land, in dem es kein landesweites Gesetzgebungs-, Justiz- und Gewaltmonopol gibt.
– Fragende Blicke, Ratespiel: Vielleicht die Schweiz mit ihrem föderalistischen System? Nein, der Bund steht rechtlich über den Kantonen, er hat die Kompetenz, seine eigene Kompetenz zu bestimmen, die oberste Instanz ist auch in der Schweiz monopolisiert. – Vielleicht Somalia? Und, haha, da sehe man übrigens, was passieren kann, wenn es keine zentrale Rechtsinstanz gibt! Und ob, wende ich hier ein, Somalia hat sehr wohl eine solche Zentralinstanz, genau um diese führen die Somalier ja seit 25 Jahren einen erbitterten Bürgerkrieg. – Aber wo denn liegt das Land ohne Machtzentrale, das Land ohne Arche (Arche = griechisch: Erzherrschaft), das Land der An-Archie?
Die Antwort lautet: Die Erdkugel als ganze! Auf ihr gibt es keine erdkugelweit zuständige Rechts- und Machtzentrale, keinen Gesetzgeber, der erdkugelweit gültige Gesetze erlässt, keine erdkugelweit zuständigen Gerichte und kein erdkugelweites Gewaltmonopol. Also doch keine Utopie, das Land der Anarchie.
Die normative Kraft des Faktischen
Was mich bei diesen Diskussionen immer wieder erstaunt, ist die geringe Skepsis gegen diese Welt-Anarchie im Gegensatz zur grossmehrheitlichen Ablehnung einer Rechtsordnung ohne Staat, beispielsweise für die Schweiz. Bei dieser sind die meisten ziemlich strikt dagegen, so etwas funktioniere doch nicht, das gäbe doch das blanke Chaos. – Ganz anders bei der Welt-Anarchie, hier tönt es meist just umgekehrt: Zum Glück gibt es nicht den Weltstaat mit weltweitem Gewaltmonopol! Das würden doch nur wieder die USA mit ihrer gigantischen Militärmacht an sich reissen und sich noch arroganter aufführen, als sie es jetzt schon tun.
Merkwürdig: Geht es um den einzelnen Nationalstaat, so sind fast alle überzeugt, es brauche einen staatlichen Monopolfixpunkt. Geht es dagegen um die Welt als ganze, sind fast alle vom Gegenteil überzeugt. Dort fürchtet man das Chaos, hier den Machtmissbrauch; dort will man Ordnung, hier Freiheit. Chaos versus Machtmissbrauch, Ordnung versus Freiheit, das scheint ein schwieriges Dilemma zu sein, mit dem man je nach Kontext völlig unterschiedlich umgeht.
Warum denn eigentlich ist das so? – Ein Grund ist, das merkt man in solchen Diskussionen immer, die normative Kraft des Faktischen: So wie es jetzt gerade ist, so soll es auch sein. Wir haben keinen Weltstaat, also ist es gut, keinen zu haben; wir haben einen Nationalstaat, also ist es gut, einen zu haben. Allerdings ist diese Art von Normativität gerade nicht die Ursache dafür, dass es den Weltstaat nicht gibt, sondern die Folge daraus. Sie erklärt nicht das Phänomen, sondern nur, wie wir darüber denken. Das Sein bestimmt bekanntlich das Bewusstsein und nicht umgekehrt (zumindest damit hatte Marx ja recht).
Fünf Minuten vor dem Weltstaat?
Woran nun liegt es aber sonst, dass es den Nationalstaat gibt und zwar in ausgesprochen entwickelter, professionalisierter und zunehmend bestimmender Ausprägung, während es einen gleichermassen starken Weltstaat nicht gibt?
Eine realistische, wenn auch wenig erfreuliche Antwort geht wohl dahin, dass es mit dem Weltstaat bloss noch nicht so weit ist, dass er aber darauf und daran ist, zu entstehen. Die global verstreute Menschheit ist sich nämlich erst vor Kurzem, vor wenigen Jahrhunderten (wieder) begegnet, zunächst als fremde Kulturen, dann immer mehr verfangen, durch Konfrontation und Handel, Krieg und Geschäft, Konflikt und Verbund, als feindliche und verbündete Völker, als fremde und eigene Nationalstaaten, durch Staatsverträge und Staatenbünde, durch überstaatliche Organisationen; und so immer mehr in die Richtung einer global umfassenden Einheitsorganisation, der wir inzwischen schon erschreckend nahe sind. Wenn es heute etwa um den Kampf gegen Steuerhinterziehung, Terrorismus und Klimawandel geht, sind sich selbst so distanzierte Machtzentren wie die USA, Russland und China ziemlich einig, verbandeln sie sich zu ziemlich homogenen Besteuerungs-, Macht- und Indoktrinationskartellen, also zu typischen Vorstufen staatlicher Monopole.
Das sind nicht schöne Aussichten. Man stelle sich nur vor, der Steuerwettbewerb sei dereinst gänzlich ausgeschaltet; was hätte da die eine globale Machtzentrale für ein Interesse, nicht einfach immer mehr zu nehmen, sich nicht noch schamloser zu bereichern, nicht nur noch für das Wohl der Führungskaste und ihrer Steuereintreiber zu sorgen und damit die Wirtschaft zu ruinieren? Weshalb noch müsste die globale Machtzentrale bei ihrem Eingriff in die Rechte der Bürger noch Recht und Verhältnismässigkeit beachten, diese so lästigen, die staatliche Effizienz behindernden Barrieren? Die Chancen zur nicht allzu fernen Verwirklichung einer solch totalitären Kernschmelze sind jedenfalls intakt.
Noch ist es nicht so weit. Und zwischendurch keimt immer auch wieder Hoffnung auf. Etwa wenn sich Russland gegen die anmassende Weltpolizistenrolle der USA wehrt; zwar ist das Beelzebub gegen Teufel, aber wenigstens ist es nicht nur einer. – Oder wenn ein neuer US-Präsident eben diesen Weltpolizisten schon gar nicht mehr spielen will; zwar führt er sich im eigenen Land nur umso autoritärer auf, aber wenigstens ist dieses kleiner als die ganze Welt. – Oder wenn Machtballung in Richtung Vereinigte Staaten von Europa plötzlich mit dem Exit wichtiger Mitglieder konfrontiert ist; zwar artikuliert sich da auch nationalistische Aggressivität, aber wenigstens wirkt sie nur national und nicht auch global.
Natürliches Recht der Völker
Mögen all diese Beelzebube, Teufel oder sonstigen nicht eben sympathischen Player je für sich allein beileibe nicht Garanten für das Paradies auf Erden sein, so sorgen doch ihr Egoismus, ihr Misstrauen gegen die jeweils anderen, ihre Aggressivität gegen diese und ihre Defensive vor ihnen dafür, dass keiner allzu dominant wird, dass die gegenseitigen Relationen zumindest tendenziell auf Augenhöhe bleiben. Wird einer zu stark, verbünden sich die Schwachen gegen ihn, wird ein Bündnis zu stark, bilden sich Gegenbündnisse, werden Blöcke zu mächtig, bilden sich Blöcke der Blockfreien. Kommt es trotz solch permanenter Checks and Balances zu Übergriffen von einem auf den anderen bis hin zu kriegerischer Aggression, so nimmt auch dies nicht einfach seinen Lauf, bis der Stärkere den Schwächeren besiegt und unterworfen hat; stattdessen treten Reaktionen ein, die dafür sorgen, dass die Augenhöhe zwischen den Streitparteien wieder hergestellt wird: Dritte werden als Vermittler beigezogen oder bieten sich selbst als solche an; Bündnisse, bei denen die Streitparteien Mitglied sind, drängen sie zur Einstellung ihrer Feindseligkeiten; bestehende oder ad hoc gebildete Gremien untersuchen den Fall und urteilen darüber, wer nun im Recht ist.
Das alles sind sehr vielfältige und nicht selten untereinander konträre Abläufe, Prozesse und Strukturen, weit entfernt von einer homogenen und einfach überblickbaren Ordnung. Doch auch die gesellschaftliche Wirklichkeit ist weder homogen noch einfach überblickbar. Also werden realistische Regelungsmechanismen ebenfalls komplex und vielfältig sein müssen und sich nicht in einem simplifizierenden Gesamtkodex abbilden lassen. Doch allemal geht es um Recht, um Reaktionen auf Übergriffe, um Korrekturen von zu starken Machteinflüssen, um Blossstellung von Unrecht, um das Zurechtrücken gegenseitiger Verzerrungen, um die Wiederherstellung von dem, was sich gehört. Das ist zwar hochkomplex, doch anerkannt als Recht, als internationales oder Völkerrecht. Mit anderen Worten, auch in dem grossen kugelförmigen Land mit dem Namen Erde, in dem es keine Macht- und Rechtszentrale gibt, auch in diesem Land der Anarchie – gibt es Recht.
Und dieses Recht herrscht ungeachtet davon, dass es keine zentrale Rechtsquelleninstanz gibt. Es kommt auch ohne eine globale Legislative aus, die in einem supergrossen kreisförmigen Plenarsaal dramatische Reden zelebriert und komplizierte Gesetzestexte verabschiedet, die Gutes in unsere schlechte Welt hinunterbringt. Das zentrumsfreie Recht verzichtet auf den Hahn Chantecler aus der schönen Tierfabel, der sich anmasst, mit seinem Schrei am Ende der Nacht dafür zu sorgen, dass die Sonne aufgeht; die wärmende Sonne des internationale Rechts geht von selbst auf, jeden Tag – oder um präzis zu sein: im Weltkugelland geht sie schon gar nie unter.
Das zentrumsfreie Recht braucht auch keine Instanz, die es förmlich in Kraft setzt; es hat von Natur aus Kraft. Oder sogar: Es ist Kraft, natürliche Kraft, die ausbricht, wenn Unrecht geschieht, sozusagen actio gleich reactio. Es ist Anwendungsfall der heute wissenschaftlich anerkannten Theorie, wonach die Welt nicht nach göttlich-kreationistischem Willen, aber auch nicht nach Zufall, sondern nach Regelhaftigkeit abläuft. Es ist die Rule of Law der Welt, nicht zu verwechseln mit der „Rule of Law“ des sogenannten Rechtsstaats, der so tut, wie wenn er sich von Recht leiten liesse; dabei ist er es selbst, der dieses sogenannte Recht produziert und sich damit hemmungslos Privilegien zuschanzt.
Aber auch das zentrumsfreie Recht schafft nicht das Paradies auf Erden. Doch immerhin, im Gegensatz zum staatlichen Recht, tut es nicht so, wie wenn es das einzig richtige wäre. Es weiss, dass es ständig sich selbst rechtfertigen, immer wieder neue Wege finden, Verbündete gewinnen, Kniffe entwickeln oder Appelle artikulieren muss. Dieses Recht ist nie erreicht, kann nie in Blei der zehn oder tausend Gebote gegossen werden, kommt nie zur Ruhe, sondern ist der ständige Kampf gegen Unrecht, das ja auch nicht dumm und faul ist. Ja, dieses Recht ist nicht, dieses Recht geschieht.
Zwielichtige völkerrechtliche Subjekte
Konkret gelebt ist dieses Völker- oder internationale Recht allerdings nicht frei von etatistischen Elementen. Dies vor allem deshalb, weil die Rechtssubjekte in aller Regel nicht etwa die Völker bzw. Nationen sind, sondern etwas anderes, nämlich Staaten. Staaten sind jene Organisationen, die sich zwar vollmundig anmassen, ein Volk zu vertreten, ja sogar ein Volk zu sein. In aller Regel sind sie aber weit hiervon entfernt. An einer Vertretungsvollmacht seitens des Volkes fehlt es so gut wie immer; kein einziger der etwa 200 Staaten dieser Erde kann eine auch nur halbwegs repräsentative Anzahl von Vollmachten „seiner“ Volksangehörigen vorweisen. Selbst die Schweizerische Eidgenossenschaft, die sich so gern als Vorzeigedemokratie brüstet, bringt es – genau nachgerechnet – auf weniger als ein Promille an demokratischer Stellvertretungslegitimation.
Abgesehen davon repräsentieren die Staaten, auch wenn sie sich so gerne „Nationalstaaten“ nennen, oft gerade nicht Nationen im Sinn von Volksgruppen, die durch natürliche Geburtsabstammung zusammenhängen. Sie geben zwar in feierlichen Deklamationen, Hymnen, Verfassungstexten oder Nationalfeiertagsreden vor, die Verkörperung einer Nation zu sein, sozusagen die Institutionalisierung des Selbstorganisationsrechts einer jeden Nation; eines Rechts übrigens, das im Völkerrecht als wichtiges Grundelement anerkannt ist. – In Tat und Wahrheit jedoch sind Staaten nichts anderes als rein territorial definierte Herrschaftsorganisationen: Wer immer seinen Fuss auf das betreffende Territorium setzt, dort wohnt oder dort ein Unternehmen betreibt, untersteht dieser Herrschaftsorganisation. Ob jemand zur betreffenden Nation gehört, interessiert nicht. Die Folge davon sind Spannungen mit Minderheiten, die sich zu Recht gegen die Zwangsmitgliedschaft wehren, oder etwa auch Sezessionsbestrebungen von ganzen Teilen eines Staates, die lieber ihre eigene Nationalorganisation wollen.
Bezeichnenderweise regieren Staaten hierauf aggressiv. Sezessions- und Eigenständigkeitsbewegungen werden in der Regel unterdrückt oder zumindest durch verfassungsrechtliche Schikanen erschwert. Will etwa ein Kanton aus der Schweizerischen Eidgenossenschaft austreten, verlangt die Bundesverfassung die Zustimmung der Eidgenossenschaft und zwar mit doppeltem Mehr sowohl des Volkes als auch der Kantone. Abgesehen davon, dass dies in der Praxis eine hohe Hürde darstellt, ist nicht einzusehen, weshalb ein Kanton (wenn er sich selbst darüber klar ist) nicht eigenständig austreten soll. Man kann ja eine Kündigungsfrist vorsehen, damit der Austritt in Ruhe organisiert und abgewickelt werden kann. Doch weitergehende Restriktionen lassen sich nicht rechtfertigen. Schon eher in die Kategorie Lachnummer gehört der Versuch, eine solche unzulässige Zwangsmitgliedschaft mit dem Begriff „Willensnation Schweiz“ zu beschönigen, so zu tun, als ginge es um eine einzige, das ganze Land umfassende Nation; als wäre nicht das pure Gegenteil der Fall, als hätten wir nicht auf unserem so kleinen Territorium eine Vielfalt von Kulturen, Konfessionen, Mentalitäten und sogar Sprachen, wie sie sonst auf einer so kleinen Fläche selten ist.
Aufhebung des Widerspruchs
Insofern birgt das real gelebte Völkerrecht einen offensichtlichen Widerspruch: In ihrer internen Organisation sind die Völkerrechtssubjekte monopolistisch strukturiert, nach aussen jedoch, im Verhältnis gegenüber den jeweils anderen Völkerrechtssubjekten, ist die Struktur anarchistisch. Oder andersrum: Was die Staaten einander gegenseitig verbieten, erlauben sie sich zu Hause grosszügig. Worauf sie untereinander mit wachsamem Misstrauen achten, nämlich dass sich ja keiner gegenüber dem anderen irgendwelche Vorrechte erlaubt, ist jeweils intern an der Tagesordnung. Was nach aussen jeweils laut gerügt wird, ist intern komplett tabu. So erklärt sich beispielsweise, dass die völkerrechtliche Grossorganisation UNO Despoten wie Muammar al-Gaddafi, Fidel Castro, Barack Obama und wohl schon bald Donald Trump im grossen Versammlungssaal Reden halten lassen und dazu höflich applaudieren, obwohl alle wissen, wie despotisch sie im eigenen Land ihre staatliche Vormacht missbrauchen mit Foltercamps, Hinrichtungen und Zwangsabgaben.
Warum also nicht diesen Widerspruch aufheben, warum nicht die im externen Verhältnis so hochgehaltenen Regeln auch auf den internen Bereich anwenden? Warum nur den National-Staaten und nicht auch den natürlichen Nationen ein Selbstbestimmungsrecht einräumen? Warum nicht auch allen anderen Organisationen, Kommunen, privaten Zusammenschlüssen, Genossenschaften, Kirchen, Unternehmen oder Familien ein Recht auf Nichtunterwerfung gegen den eigenen Willen einräumen? Und warum eigentlich das Gleiche nicht auch jedem einzelnen Menschen?
Das lehrt doch letztlich das Völkerrecht, dieses natürliche Recht der Anarchie.