Seit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise 2008 steht der Kapitalismus unter Dauerbeschuss. Dabei ist die Kritik nicht neu – Abneigung gegen Zinsnahme und Handel finden wir bereits bei Plato und Aristoteles: Streben nach Reichtum als absoluter Gegensatz zur Tugendhaftigkeit. Der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus hat jedoch die Art der Kritik geändert. Aus einer Fundamentalkritik wurde der dringende Wunsch nach «Besänftigung» der Märkte – Kapitalismus ja, aber doch bitte sozial. De facto freilich nichts Anderes als die Abschaffung der freien Marktwirtschaft selbst.
Es gibt aktuell kaum Bücher, welche sich dem Chor der Kritik verweigern und eine gänzlich libertäre Haltung einnehmen. Die herrschende Meinung ist ganz bei Piketty. Ähnlich selten sind Darstellungen, welche sich auf historischer, philosophischer und soziologischer Ebene dem Untersuchungsgegenstand nähern und dabei auch noch um grösstmögliche Ausgewogenheit der Darstellung bemüht sind. John Plender, langjähriger Journalist der Financial Times, hat 2015 eine solche Darstellung vorgelegt.
Eine alte Debatte, nicht erst seit Paulus. Für Paulus war das Streben nach Reichtum die Wurzel allen Übels. Die Romantiker des 19. Jahrhunderts sahen im Kapitalismus den Grund für die Entmenschlichung durch Arbeit, und Marx wartete schliesslich mit seiner Fundamentalkritik auf. Die Verteidiger waren stets in der Minderheit. Smith und Montesquieu hoben hervor, dass freier Handel befriedend wirke und unser Wohlstand nicht auf Altruismus beruhe – er beruhe hingegen schlicht auf dem Streben nach dem eigenen Vorteil.
In zwölf thematisch weit gespannten Kapiteln untersucht Plender die Argumente der beiden Seiten und tendiert selbst – obwohl er sich als Kapitalismusfreund bezeichnet – zu einer gemässigten Kritik; wohlmeinend aber ganz Zeitgeist. Die Verdrängung der Industrie durch Dienstleistungen, die Rolle des Goldes in seiner sechstausendjährigen Geschichte, Spekulationen und Blasen sowie die Auswirkungen von Staatsschulden sind nur einige der jeweils überaus breit behandelten Themen.
Die Stärke der Darstellung besteht in der Ausgewogenheit der Argumente. Im Kapitel «Hijacked by bankers» betrachtet er nicht nur die Auswirkungen von «Gier» und «moral hazard» im privaten Bankensystem; er setzt sich auch mit dem Machbarkeitswahn der Zentralbanken und der Regulierungswut der Gesetzgeber sowie den damit verbundenen Fehlanreizen auseinander.
Die an Zitaten reiche Darstellung empfiehlt sich denjenigen, die sich für die Wahrnehmung und Kritik des Kapitalismus durch Ökonomen und Intellektuelle interessieren. Dabei vermittelt diese eigentliche Begriffsgeschichte gerade auch die – unausgesprochene und häufig unbewusste – Grundlage der heutigen Kritik. Diese Kenntnisse werden auch in Diskussionen – ganz im Sinne von Clausewitz – hilfreich sein: Die Kenntnis des gegnerischen Gedankenganges erlaubt es, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
John Plender, John: Capitalism – Money, Morals and Markets, London 2015. 323 Seiten, GBP 20,00 oder CHF 37,90.
Steve Lutzmann, Vorstandsmitglied Hayek Club Zürich